Während der Recherchen für diesen Artikel lernte ich Jürgen kennen, einen offen homosexuell lebenden Mann. Ich fragte ihn, wann ihm bewusst gewesen wäre, schwul zu sein. „Mit ungefähr 13“, erzählte Jürgen. Und auf meine Frage, ob er je an seiner Neigung gezweifelt oder den Wunsch verspürt habe, sexuelle Erfahrungen mit einer Frau zu machen, kam eine klare Antwort: „Nein. Seit ich mich erinnern kann, fand ich immer nur Männer erotisch, von Anfang an. Frauen haben mich – zumindest sexuell – keinen Moment lang interessiert. Ich wollte immer nur mit Männern Sex haben!“
Umgekehrt erlaube ich mir, meine Gefühlswelt als Gegenpol heranzuziehen. Ich hatte nie auch nur den leisesten Zweifel daran, heterosexuell zu sein. Die Vorstellung, Sex mit einem Mann zu haben, erscheint mir ungefähr so verlockend wie die Idee, mit dem Kopf gegen eine Wand zu laufen … na ja, ehrlich gesagt würde ich Letzteres sogar noch vorziehen. Man könnte mich wochenlang in einen Raum mit Brad Pitt, David Beckham oder Daniel Craig sperren und es würde ungefähr das Gleiche passieren wie bei Jürgen in einer WG mit Claudia Schiffer, Cindy Crawford und Heidi Klum … nämlich nichts. (Andersrum allerdings kann ich – zumindest von meiner Wenigkeit ausgehend – für nichts garantieren!)
Worauf ich hinaus will? Ich erwähne meine Heterosexualität nicht, weil ich besonders stolz darauf bin, sondern: Ich bin heterosexuell, weil ich es bin. Offensichtlich von Geburt an.
Natural born gay?
Ist die sexuelle Neigung also doch angeboren? Oder anders gefragt: Ist Schwulsein genetisch bedingt? 1993 verkündete der amerikanische GenetikerDean Hamer, er habe eine Art „schwules Gen“ gefunden. Endlich schien bewiesen, dass Homosexualität angeboren ist. Für viele „Normale“ endlich ein guter Grund, Schwule und Lesben zu akzeptieren; schließlich können sie ja nichts dafür, wenn es in den Genen steckt.
Dummerweise erwies sich die Akte X-Chromosom als ziemlicher Flop. Hamers Entdeckung konnte trotz zahlreicher Untersuchungen nicht bestätigt werden. Im Gegenteil: Je ausführlicher man forschte, desto mehr unbekannte Variablen traten auf. Der aktuelle Stand der Wissenschaft lautet: Der Ursprung der Homosexualität liegt vermutlich in einem komplexen Zusammenspiel von Genen und Sexualhormonen, wird wahrscheinlich schon im Mutterleib festgelegt. Zusätzliche Umwelteinflüsse halten jedoch selbst Genetiker für möglich!
Fein, fein. Aber treffen all diese Faktoren nicht auch für Heteros zu?
Tatsache ist: Der Ursprung der sexuellen Orientierung liegt nach wie vor im Dunkeln.
Also, werte Leserin und werter Leser. Wenn Sie wissen möchten, warum Ihre Tochter lesbisch oder Ihr Sohn schwul ist, dann kann ich Ihnen eine klare Antwort geben, die da lautet: keine Ahnung! Ob jemand hetero- oder homosexuell orientiert ist (oder sich irgendwo dazwischen wiederfindet), muss trotz verschiedenster Anhaltspunkte und daraus folgender Theorien letztendlich als wissenschaftlich ungeklärt bezeichnet werden. Das ist wie im Lotto: Nix ist fix. Man weiß einfach nicht, ob Homosexualität (entwicklungs-)psychologische Ursachen hat oder ob manche Menschen bereits von Geburt an lesbisch bzw. schwul sind und es nur irgendwann zum Coming-out kommt.
Schwule Geschichte. Ein Vorurteil jedoch kann eindeutig widerlegt werden: Wir haben es mit keiner „Verfallserscheinung“ einer dekadent gewordenen Gesellschaft zu tun. Homosexuelle Neigungen existieren, seit es Menschen gibt; Belege dafür finden sich quer durch die Jahrhunderte. In der Antike war Homosexualität manchmal legal, manchmal hoch angesehen und manchmal verboten – aber immer da. Erst die Ideologie des frühen Christentums fing an, Homosexualität so richtig zu verdammen. Begründet wurde dies mit dem Gebot „Seid fruchtbar und mehret euch“, was – zugegeben – bei zwei gleichgeschlechtlichen PartnerInnen mit einer gewissen Aussichtslosigkeit verbunden war. Im Laufe der Zeit konnte man durch schwule Aktivitäten in
lebensgefährliche Schwulitäten geraten: Wer bei „sodomitischen“ Spielchen ertappt wurde, dessen Arsch gehörte – nach kurzem Zwischenstopp am Scheiterhaufen – fürderhin röstfrisch dem Teufel. Fakt ist: Das Christentum betrachtet Homosexualität bis heute als „abnormal“ und „pervers“.
In der Tradition dieser Geisteshaltung erscheint es nicht weiter verwunderlich, dass die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft den Begriff „Homosexualität“ erst im Jahre 1973 aus der offiziellen Liste der Geisteskrankheiten strich. Es dauerte immerhin noch rund zwei weitere Jahrzehnte, bis die „World Health Organization“ (WHO) 1992 folgte. Ein Schnupfen kann schließlich geheilt werden, Schwulsein hingegen nicht.
Landläufig bekannt ist die bei Schwänen auftretende Homosexualität. Hier kann es sogar Nachwuchs geben: Manchmal legen Schwanenweibchen ihre Eier in das Nest von schwulen Schwanenpaaren,die dann aufopfernd für die Jungen sorgen.
Umpolungen: fragwürdige Erfolge.
Zwar gibt es Berichte über therapeutische „Umpolungserfolge“, also über schwule Männer und lesbische Frauen, die sich nach erfolgter Behandlung wieder dem anderen Geschlecht zugeneigt fühlten. Doch bei genauerem Nachforschen zeigt sich: Hinter vielen Jubelmeldungen stecken Organisationen, die aufgrund ihrer Ideologie homosexuelle Orientierungen nicht akzeptieren können.
Bereits 1990 hat die Amerikanische Psychologische Gesellschaft festgestellt, dass es keinen wissenschaftlichen Beweis für den Wechsel der sexuellen Orientierung durch eine Therapie gibt, im Gegenteil: Die „Umpolung“ einer sexuellen Orientierung bewirkt zumeist mehr Unheil als Heil. Schließlich würde man ja nicht nur das sexuelle Verhalten, sondern die gesamte Gefühlswelt und damit die persönliche Identität eines Menschen umdrehen. Oder, wie es Hartmut Bosinski, Professor für Sexualmedizin an der Universität Kiel, formulierte: „Niemand kann zur Homo-oder zur Heterosexualität erzogen oder verführt werden. Und ebenso wenig kann man jemanden davon befreien.“
Man kann niemanden homosexuell „machen“.
Die weit verbreitete Vorstellung, ein Kind sei durch die Verführung oder Beeinflussung einer bzw. eines Homosexuellen schwul oder lesbisch „gemacht“ worden, ist durch zahlreiche Untersuchungen widerlegt. Auch sind gleichgeschlechtliche Erfahrungen wie Gruppenmasturbationsspiele oder (Längen-)Vergleiche der Geschlechtsorgane in der Kindheit durchaus nicht unüblich … und definitiv kein Auslöser für eine homosexuelle Orientierung. Und noch etwas bestätigt die Statistik: Kinder, die in einer Familie mit zwei gleichgeschlechtlichen Eltern-teilen aufwachsen, werden nicht häufiger schwul oder lesbisch als Kids aus einer Hetero-Familie.
Was ist normal?
In Umfragen bekennen sich „nur“ rund vier Prozent der männlichen und rund zwei Prozent der weiblichen Bevölkerung zu ihrer Homosexualität. Die „Dunkelziffer” liegt vermutlich weitaus höher …
Am Anfang dieses Artikels stellte ich die Frage, warum wir nach dem Ursprung der Homosexualität forschen.Weil Lesben und Schwule eine Minderheit sind? Das sind Linkshänder auch. Weil ihr Sexualverhalten außerhalb der gesellschaftlichen Norm liegt und damit nicht „normal“ ist? Ist es denn tatsächlich so? Nicht einmal die Evolution mit ihrem „Gesetz zur Fortpflanzung“ kommt uns hier zur Hilfe. Denn Biologen kennen mindestens 450 Tierarten(darunter Affen, Schafe, Giraffen, Eichhörnchen, Delfine), die gleichgeschlechtlichen Sex praktizieren; schwule Schwäne gehen sogar lebenslange Partnerschaften ein.
Ist also vielmehr die Frage an sich falsch, weil es in Wirklichkeit gar nichts zu hinterfragen gibt? Weil die Natur variantenreicher ist, als es Vorstellungskraft und Moral der Menschen zulassen? Immer mehr Wissenschaftler kommen zur Überzeugung, die Vielfalt der Sexualität sei Ausdruck der Experimentierfreudigkeit der Natur. Homosexualität ist also kein „Minderheitenfall“, sondern in Wahrheit ganz natürlich.
Letztendlich gibt es nichts zu erklären. Menschen sind, wie sie sind. In diesem Sinne mache ich es wie der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit und oute mich ganz offiziell: Ich bin hetero – und das ist gut so.
Robert Sonnleitner
Der Autor lebt seine Kreativität vor allem als Vater von Dylan Christopher und Chiara Zoué aus. Falls ihm die beiden noch ein bisschen Zeit lassen, betätigt er sich auch als Werbekonzeptionist, Journalist und Schriftsteller.