Mal ganz ehrlich: Haben Sie noch nie gelogen? Klar, soll man das nicht. Aber warum wir Eltern dazu neigen unseren Kindern gebetsmühlenartig vorzubeten, dass sie niemals lügen dürfen, obwohl wir es doch selbst manchmal mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, entbehrt jeder Logik. Forscher haben längst herausgefunden, dass der dosierte Umgang mit der Wahrheit, mitunter erfolgsfördernd sein kann. Der entspannte Umgang mit den kleinen „Flunkereien“ unserer Kinder wäre in vielen Fällen der weit bessere Weg.
Was sollen wir machen, unser Sohn lügt uns immer wieder an, vor allem, was Vorfälle in der Schule betrifft!“, beklagt sich die Mutter des 9-jährigen Martin. Auch die 11-jährige Isabel kommt nicht besonders gut weg, als ich ihren Vater befrage, ob sie denn zu Hause folgsam sei: „Nun ja, folgsam ist sie eigentlich schon! Zum Beispiel beim Aufräumen und Schulaufgaben machen, gibt es nichts zu meckern. Aber dafür hat sie mich nach dem Elternsprechtag schon wieder mal wegen ihres Benehmens in der Schule angelogen! Warum tut sie das?“
Flunkereien haben viele Gründe
Wenn auch manch eine Lüge harmlos sein mag, so fragen sich doch die allermeisten Eltern, warum ihre Kinder überhaupt schwindeln. Nun, das Verhalten der Täuschung oder, um es diplomatischer zu formulieren: der „schonenden Schilderung“ beginnt zumeist damit, dass ein Kind das Empfinden hat, eine Schonung der Bezugspersonen sei eben offenbar notwendig. Das passiert aber nur, wenn das Vertrauen in die Reaktion der Eltern nicht ganz gefestigt ist. Anders formuliert: Je größer die Vertrauensbasis innerhalb der Familie ist, desto weniger wird seitens des Kindes auf die Unwahrheit zurückgegriffen. Sobald ein Kind hingegen das Gefühl hat, dass auch „Peinliches“ oder einfach nur Unangenehmes nicht unbedingt zu schlechter Stimmung oder gar zur Eskalation führt, ist diese Art der Kreativität wohl auch kaum bis gar nicht gefragt. Doch eine andere, sehr häufige Umgangsweise mit dem Thema Lügen kann noch etwas ganz anderes bei Ihrem Kind auslösen. Nennen wir es …
Gewissenskonflikt: Du darfst nicht…, du musst …
„… und vergiss nicht: Du darfst nie lügen!“, gibt Raffaels Mutter dem Taferlklassler an seinem zweiten Schultag noch mit auf den Weg, und merkt dabei nicht, wie Ihr Sohn unwillkürlich zusammenzuckt. Das Kind befindet sich augenblicklich in einem tiefen Gewissenskonflikt, weil seine unmittelbare Umgebung ganz offensichtlich eben so nicht zu funktionieren scheint, wie seine Mami dies von ihm verlangt: Schon am allerersten Schultag hat der Bub nämlich nicht nur einige seiner neuen Klassenkameraden beim „Schwindeln“ ertappt, sondern auch früher schon des Öfteren sogar seine Mutter, die der Nachbarin manch ein unangenehmes Ereignis in Raffaels Familie ganz anders erzählt, als es in Wirklichkeit war. Leider neigen wir Erwachsenen erstaunlich oft dazu zu, von Kindern etwas zu fordern, das in unserem eigenen Umfeld so niemals funktioniert: „Du darfst niemals fluchen!“; „Du musst mit allen in deiner Schule gut auskommen!“; „Du musst bei allem „bitte“ und „danke“ sagen!“; und ähnliches. Der Gewissenskonflikt, in den die Kinder bei dem Versuch geraten, diese Forderungen zu erfüllen, kann erheblich sein und führt nicht selten auch zu häufigem Lügen.
Entspannter Umgang – es steckt in unseren Genen
Doch wir sollten dieses Verhalten nicht unbedingt durch ständige Sanktionen oder Strafpredigten aufwerten. Das führt beim Kind nur zu erneutem Abwehrverhalten. Wenn Sie es noch entspannter sehen wollen, suchen Sie doch mal nach Ergebnissen der modernen Lügenforschung (Mentiologie): Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Lug und Trug nicht nur tief in unseren Genen stecken, sondern sogar ein Motor der Evolution gewesen sein könnten. Biologen vermuten sogar, dass die Entwicklung des komplexen menschlichen Gehirns überhaupt nur durch den Umgang mit Täuschungen möglich war. Forschungsergebnisse haben außerdem gezeigt, dass ohne Schwindeleien wohl kaum jemand erfolgreich durchs Leben kommt. Auch Entwicklungs-Psychologen betrachten das Erlernen und Wahrnehmen von Lügen, bzw. das kreative Zurechtbasteln von Formulierungen sogar als wichtigen Entwicklungsschritt für Kinder. Der dosierte Umgang mit der Wahrheit scheint ganz allgemein das Leben zu erleichtern. „White lies“ (weiße Lügen) nennen beispielsweise die Amerikaner diese Weichspüler der Kommunikation. Raten Sie einmal, wie oft am Tag wir durchschnittlich lügen.
Sie werden staunen: Studien haben ergeben, dass uns mehrmals am Tag eine Unwahrheit über die Lippen kommt. Weit öfter hören oder lesen wir selbst Unwahrheiten – und das nicht erst seit Fake News zu unserem Alltag gehören!
Entspannen Sie sich also und sehen Sie einfach Ihrem Kind zu, wie rasch es wie von selbst gelernt hat, dass es der gebrechlichen Großtante besser nicht sagt, dass es deren feuchte Schmatzer widerlich findet. Denken Sie lieber zurück an letzte Weihnachten und die geheuchelte Freude über die „tolle“ Küchenmaschine von Tante Berta, oder an Ihre eigene Anordnung, über den peinlichen Onkel in der Schule Stillschweigen zu bewahren. Eine Anordnung zur Lüge eben … So lernen Kinder! Wie wir schon wissen, muss das nicht unbedingt schlecht sein.
Geschick und Charme
Lügen kann man nämlich auch als ein Zeichen für Geschick viel Charme betrachten: Wie gut können Kinder doch schmeicheln und uns tagtäglich mit ihren unschuldigsten Blicken um den Finger wickeln. Wollen wir das dann auch als “Lügen“ ansehen? Der Wiener Lügenforscher Peter Stiegnitz meint zum Beispiel, „Echte Karrieremenschen arbeiten statt mit Fleiß und Ausdauer lieber mit Geschick und Charme.“ Nicht unbedingt die schlechtesten Aussichten, für ein zukünftiges Leben oder?
Text: „KiddyCoach“ Gerhard Spitzer (Fratz&Co)
Bild: pixabay – Roland Schwerdhöfer
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