Warum tun wir das uns selbst und unseren Kindern alle Jahre wieder an?
KiddyCoach Gerhard Spitzer über den Weihnachts-(Un-)Frieden.
Rasch, zieht euch an, sonst kommen wir zu spät zum Weihnachtsessen bei Oma und Opa.“, keucht die Mutter der 6 jährigen Zwillinge, Martin und Sabrina. Vom anderen Ende des Zimmers hören Sie Papas Gemurmel: „Wenn nur die Weihnachtsfeiertage schon vorbei wären!“ Aber nicht nur Mama und Papa scheinen sich in den letzten Wochen nicht so richtig glücklich zu fühlen, auch die quirligen Zwillinge selbst haben gestern eine ganz klare Beschwerde ausgesprochen: „Warum spielst du nicht mehr mit uns, Mami?“ Klar steckt dahinter nicht generell das Aufbegehren gegen Weihnachten, dafür aber umso stärker das Empfinden verlorener gemeinsamer Zeit. Für Sabrina und Martin nicht grundlos: Seit Wochen befindet sich ihre Mama in einem für die Kinder schlicht unerklärlichen Stresszustand. Kaum eine Minute hat sie Zeit für das sonst so beschauliche Familienleben, das die Kinder kennen und so sehr lieben …
Leute und Lerneffekte
Stattdessen macht Mama nahezu täglich hektisch Besorgungen, tätigt Papa Höflichkeitsanrufe bei Menschen, von denen sie kaum je gehört haben, schreibt Mama Weihnachtskarten an ihnen unbekannte Adressen. Das Schlimmste aber sind für Sabrina die hektischen Besuche bei Verwandten oder Freunden der Eltern, die sie perfekt „geschneutzt und gekämmt“ mitmachen müssen. Martin hingegen hasst es noch viel mehr, wenn Besuche plötzlich daheim eintreffen: Onkel Hubert mit seiner polternden Stimme, Tante Fini mit ihrem grässlichen Geruch an den Kleidern.
Von beiden sehen und hören sie sonst das ganze Jahr über gar nichts. „Gerade bei Großtante Klara“, schärft Mami ihren lieben Kleinen ein, „müsst ihr ganz viel Freude und Überraschung zeigen, egal, was sie euch schenkt!“ Ein Verhalten, das die beiden wirklich gar nicht mögen, aber auch gar nicht begreifen können! Mamas Beweggründe verstehen sie noch viel weniger, zumal sie ihnen wohl keiner erklärt hat. Ein Lerneffekt für die Kleinen steckt jedenfalls schon dahinter: Zu Weihnachten darf und soll man sich ganz oft auch unehrlich aufführen!
Stress lass nach
Stress ist eine ganz einfache Gleichung: Der Mensch gerät in Stress, wenn Anforderungen an ihn gestellt werden, denen er in gegebener Zeit nicht gerecht werden kann. Und dennoch: Ausgerechnet zu Weihnachten muten wir uns, über die alltäglichen Verpflichtungen hinaus, weitere Aufgaben zu. Aber es geht auch anders. So hat vor zwei Jahren eine deutsche Zeitung „Wir erleiden Weihnachten“ getitelt und dabei zu achtsamerem Umgang mit Konsumzwang, Stress und Erwartungshaltungen innerhalb der Kernfamilie aufgerufen. Da kann ich aus verhaltenspädagogischer Sicht nur zustimmen.
Besonders zu Weihnachten treffen ja diverse ganz unterschiedliche Erwartungshaltungen von Erwachsenen aufeinander. Während wir uns bemühen, schon in der Vorweihnachtszeit einzelne Familienmitglieder und uns nahe stehende Menschen, deren Bedürfnisse wir allerdings oft gar nicht hinterfragt haben, irgendwie „glücklich“ zu machen, können besonders jüngere Kinder die wahren Gründe für dieses Handeln weder begreifen noch richtig zuordnen. Schon diese unterschiedliche Sichtweise birgt Potenzial für Spannung und Streit am häuslichen Herd. Genau wie zuvor Sabrina und Martin empfinden schließlich die allermeisten Kinder die zwangsverordnete Stressperiode bloß als ein Herausreißen aus dem vielleicht sonst so geordneten Alltag.
Wir erleiden Einkaufen
Auch über den Konsum darf ich als Erziehungsberater nicht hinwegsehen: Zuweilen dürfen wir uns nämlich durchaus Gedanken darüber machen, wie sehr wir unseren Kindern mit Einkaufs-Orgien das Erlernen von unmittelbarem Konsumzwang förmlich aufdrängen. Aber ist es nicht genau das, was wir vielleicht gar nicht vor hatten? Was wollten wir unseren Kindern noch gleich vermitteln? Eher innere oder äußere Werte?
Vielleicht bloß ein wenig Wertschätzung? Und all die vielen Geschenke? Es darf auch erlaubt sein, über das termingerechte Beschenken selbst nachzudenken, und für wen wir das eigentlich tun. Könnte es nicht so sein, dass wir jemandem ein Geschenk überreichen, um uns damit selbst gut zu fühlen? Wenn diese tolldreiste Frage schon erlaubt ist, dann darf ich mir im Fratz- Kasten auch noch einen milden Denkanstoß zum Thema „gut meinen“ erlauben. Genießen wir also Weihnachten nach Herzenslust, vor allem aber nach Herzenslust der Kinder!
Fotos: Ernsting‘s family, Hersteller