Was vom Tage übrigbleibt

Die Zwillinge Sabrina und Michael (9) sind schon den ganzen Nachmittag über allein zu Hause. Und sie machen das ganz toll! Das darf man ihnen lassen! Es muss wohl auch so sein: Sarah (30), allein erziehende Mutter der beiden, arbeitet eben abends lange. Früher waren die quirligen Kinder wenigstens bei einer Tagesmutter. Doch vor einiger Zeit hat Mama erklärt: „Die Tagesmutter für euch, meine Lieben, kann ich mir nicht mehr leisten! Könnt ihr das verstehen?“ Natürlich haben die beiden zugestimmt, obwohl sie sich bei ihrer „Nachmittags- Familie“ schon recht wohl gefühlt hatten. 
Aber Kinder sind ohnehin immer flexibel, sie schaffen mehr, als man denkt! Auch wenn die Familie oft nicht beisammen ist: Manche Kinder, die viel alleine sind, legen sicherlich oftmals außergewöhnliche Selbstständigkeit und Verlässlichkeit an den Tag. Zumeist halten sie sogar bessere Ordnung daheim und wissen sich wesentlich eher bei Alltäglichkeiten zu helfen, als dauerhaft gut behütete Altersgenossen. Eine Sache, die man natürlich so oft als möglich positiv wahrnehmen darf, auch, wenn noch so ein stressiger Arbeitstag hinter einem liegen mag.

Stresslage

Auf leisen Sohlen schleicht sich nämlich nicht nur bei Sarah und ihren Kindern, sondern auch in unzähligen anderen Familien mit berufstätigen Eltern immer wieder eine kleine Verständigungs-Schwierigkeit ein: Die Kinder können mit dem für sie abstrakten Arbeitsstress, den Mama nach Hause bringt kaum etwas anfangen. So kommt es gar nicht so selten zu den typischen: „Ihr-beiden-stresst- mich-heute-so-sehr“- Szenen, die aber in Wahrheit kaum etwas mit den Kinder zu tun haben.
Es ist der oft tägliche Überforderungsstress, der eben aus Arbeits- und „Erwachsenen-Leben“mitgebracht wird. Doch die Kinder gehören nun mal – wenn wir es so sehen wollen – zu einem ganz anderen Leben. Das aber darf man auch ganz authentisch und von Herzen transportieren. Zum Beispiel so: „Meine Lieben, ich bin zwar heute total fertig von der Arbeit, aber wenn ihr so lustig drauf seid wie heute, stresst mich das gleich viel weniger! Ich kann mich jetzt sogar erholen! Schön, dass ich zum Vergessen des ewigen Stress wenigstens euch habe!“ Das sind ganz neue Töne für Sabrina und Michael. Denn früher hat Sarah ihre Belastungen so sehr nach Hause getragen, dass die Zwillinge immerzu das Gefühl hatten, daran Schuld zu tragen, dass Mama sich einfach nicht gut fühlt. 

Schuldfrage

Dazu neigen leider naturgemäß alle Kinder. Und das in nahezu allen Lebenslagen. Sie beziehen jede nur mögliche Schuld auf sich: „Bin ich schuld, wenn Mami und Papi so heftig streiten? … wenn sie nicht miteinander reden?  … wenn auf einmal kein Geld mehr da ist? … wenn das Haus abbrennt?“ Diese für Kinder quälende Sichtweise kann eigentlich bei allen belastenden Ereignissen des Familienlebens eintreten, ganz sicher aber bei spürbar mitgebrachtem Berufsstress! Vor allem dann, je weniger die Kinder über den Berufs- und Tagesablauf der geliebten Eltern Bescheid wissen. Also kann es auch durchaus passieren, dass mitgebrachte Überlastung von Kindern als schuldhaftes Verhalten gedeutet wird. Das kann man jedoch mit ganz einfachen Rezepten ganz gut in der Griff bekommen (siehe Kasten). Ihr Kind wird es Ihnen danken.
Sabrina und Michael beispielsweise spüren ohnehin täglich, dass sie ihre Mama vermissen, und dass sie sie eigentlich andauernd brauchen würden. Nicht erst spät abends, wenn das Geschäft mal die Güte hat, zuzusperren. Wahrscheinlich ist es gerade dann einer der schönsten Momente, wenn Mama vielleicht ziemlich geschafft heimkommt, dafür aber die Kinder von ihr sofort das Gefühl bekommen, dagegen sogar etwas Wertvolles machen zu können. Einfach, indem sie da sind! Und lieb! Und lustig! Und quirlig wie immer! Eigenkompetenz vom Feinsten!

Fad im Kopf

Übrigens: Auch wenn beispielsweise die Zwillinge aus unserem Fallbeispiel die ganze Zeit des Alleinseins wenigstens einander haben und überdies eine ganz liebe Nachbarin häufig nach den Kindern sieht, ist ihnen tagtäglich irgendwann „fade im Kopf“, wie sie selbst es oft nennen. Ein ganz natürlicher Zustand, weil sie einfach dringend den Input einer fixen erwachsenen Bezugsperson benötigen. Noch stärker aber wird dieses kindliche Gefühl von „Langeweile“ durch die schlichte Sehnsucht nach dem Wahrgenommen-Werden und vor allem nach Interaktion mit der geliebten Mutter, dem geliebten Vater, nach deren unersetzlicher und spürbarer Zuneigung, nicht zuletzt nach dem so wichtigen Körperkontakt. All dies nach einem heftigen Arbeitstag, dann bei den Kindern abzuliefern, macht so einiges wieder gut. Und das nicht nur bei den Kindern … 
Gerhard Spitzer ist Sozialpädagoge, Familiencoach und Erziehungsberater. Seit mehr als 26 Jahren erfolgreich in der außerschulischen Jugendarbeit als Betreuer und pädagogischer Leiter sowie als Erziehungsberater tätig, kennt und liebt er die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aller „Schwierigkeitsgrade“. Erfolgreich und gerne besucht sind eine humorvollen Vorträge zum Thema „Entspannt erziehen“.
FratzInfo
Eltern-Kind-Beziehungen aktiv leben – auch vor dem Hintergrund des Berufsalltags
Im „Strudel der beruflichen Ereignisse“ denken manche Eltern vielleicht zu selten daran, wie rasch ihre Kinder aus dem Hause sind, bis dann nur noch der Job bleibt. Genießen Sie daher jede Minute des Miteinanders. 
Eigentlich sollte Ihnen Ihre Arbeit auch so richtig Spaß machen! Tut sie das eigentlich? Ihre Kinder werden Ihre Einstellung zur Arbeit übrigens übernehmen. Lassen Sie doch gerade diesen Gedanken zuweilen von Herzen zu.
Machen Sie auch Ihrem Chef oder Ihrer Chefin zuweilen klar, dass Sie daheim Kinder haben und deshalb nicht jede zeitaufwändige Aufgabe annehmen können. Oft sind es die aufgebürdeten Kleinigkeiten, die den Job erst so richtig stressig machen. 
Sind Sie nach Ihrer Arbeit so sehr geschafft, dass Ihr quirliges Kind Sie belastet? Dann darf dies einmal so richtig hinterfragt werden: Belastet Sie wirklich Ihr Kind oder eher Ihr Job?
Übrigens: Auch nach dem heftigsten Arbeitstag darf es einmal gesagt werden: „Mein Liebling, am Besten erhole ich mich, wenn ich zu dir heimkomme!“. Schauen Sie dann bitte rasch hin, wie Kinderaugen leuchten können …
Foto: Monkey Business Images – shutterstock.com
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