Integrationsklasse

“Wann kommen wir in die Zeitung?” Ja, zugegeben, mein nicht gerade zierlicher Fotoapparat macht viele SchülerInnen neugierig. Doch nichts kann den 8-jährigen Schüler Paul* aufhalten, seine Wissbegierde ist einfach zu groß.
“Wenn Paul etwas Neues, Fremdes interessiert, kann er sich hingebungsvoll damit auseinandersetzen”, berichtet mir Isabella Schönbacher, eine der zwei Klassenlehrerinnen. Paul, einer der vier Integrationsschüler, ist hyperaktiv. Er wird nach dem Volksschullehrplan unterrichtet, der von Frau Schönbacher, ausgebildete Volks- und Sonderschullehrerin, individuell auf ihn abgestimmt wird. Sein Arbeitsplatz ist im hinteren Teil der Klasse, leicht abgetrennt durch eine Korkwand. Hier hängt auch Paul´s Arbeitsplan, den er in dieser Woche erfüllen muss.

Erfahrungen mit der Sitzordnung haben gezeigt, dass sich Paul im hinteren Teil der Klasse bewegen kann, ohne dass die anderen Kinder irritiert und von der Arbeit abgelenkt werden. Denn es ist wichtig, dass Paul sich bewegt, damit er sich danach wieder konzentrieren kann. Immer wieder steht Paul auf, flitzt herum und stattet mir einen Besuch ab: Wann ich die Klasse denn endlich fotografiere?

*Namen von der Redaktion geändert

Gelebte Integration

Seit 2001 gibt es an der Offenen Volksschule Zeltgasse im achten Wiener Gemeindebezirk eine Integrationsklasse, die zweite kam im darauffolgenden Schuljahr dazu. “Die Klassen wurden eingeführt, weil bei den Geschwistern von Schülern sonderpädagogischen Förderbedarf (spF) gegeben war”, erklärt Direktor Florian Siebert im Gespräch.
Vier Integrationsschüler und 16 bis 18 andere Kinder braucht es, um von gesetzlicher Seite her eine Integrationsklasse eröffnen zu können. Alle Eltern, deren Kinder spezielle Förderung benötigen, haben das Recht , dass ihr Nachwuchs in einer Integrationsklasse – und nicht in einer Sonderschule – unterrichtet wird. Dies ist seit 1993 im Schulgesetz verankert. Seit dem Schuljahr 1997/98 sind Kinder mit spF auch berechtigt, die allgemeine Schulpflicht in einer Hauptschule bzw. Unterstufe der allgemeinbildenden höheren Schule fortzusetzen.

In vielen Gesprächen, an denen Eltern, Pädagogen, Psychologen und der jeweils zuständige Bezirksschulrat beteiligt sind, wird die beste Schulform für ein Kind mit spF ermittelt. “Bei einer solchen Entscheidung geht es nicht nur um den Aspekt der Integration. Es kann auch sein, dass ein Kind die bestmöglichen Förderungen in einer Sonderschule erhält”, so Direktor Siebert.

Jeder nach seinem Rhythmus

Sophie* und Florian*, zweieiige Zwillinge, haben Lernschwierigkeiten, Florian aufgrund seiner Hörschwäche. “Auch wenn Florian sehr oft sein Hörgerät vergisst, bekommt er doch sehr viel im Unterricht mit, er arbeitet gerne. Sophie verzweifelt manchmal, wenn sie Fehler macht und nicht so schnell weiterkommt wie die anderen”, so die Klassenlehrerinnen, die die beiden nach dem Sonderschullehrplan unterrichten. Nach Bedarf kann der Lehrplan, nach dem die Kinder unterrichtet werden, angepasst werden, also vom Sonder- zum Volksschullehrplan oder umgekehrt.
Wie kann man sich den Unterricht mit zwei Lehrplänen vorstellen? Beispiel Deutschstunde: Die Klassenlehrerin Wingrid Weidinger-Pirgic– für die Schüler kurz Winnie – erarbeitet mit den Kindern Wörter mit ie, die von der Tafel abgeschrieben, in ein Briefkuvert verpackt und ins Heft eingeklebt werden. Die zweite Klassenlehrerin sitzt bei Sophie, hilft ihr und motiviert sie, wenn etwas mal nicht so klappt.

Der Wochenplan wird von den zwei Klassenlehrerinnen gemeinsam erstellt, Frau Schönbacher überlegt sich dann Modifikationen für die Integrationsschüler. “Sie freuen sich, wenn sie weniger Aufgabe bekommen als die anderen, wobei sie dann auch oft das Pensum der anderen machen”, erzählt sie mir von ihren Schützlingen.

In den Freiarbeitsstunden – vier pro Woche – erfüllen die Kinder selbständig, aber natürlich mit Unterstützung der Klassenlehrerinnen, Aufgaben in Schreiben, Rechnen und Sachunterricht. Für die Kinder, die schnell fertig sind, bleibt viel, für alle anderen immer noch genug Zeit zum Lesen ihres Lieblingsbuches, zum Malen etc.

Einzig und allein kritisch wird es in der Stunde “Textiles Werken”: Das Nähen mit der Nadel ist für alle ein Geduldsspiel, da können die Emotionen schon einmal hochgehen. Paul Lesezeichen, das mit bunten Fäden verziert werden soll, entgeht nur knapp einem Schicksal im Mülleimer. Doch in einer stillen Minute söhnt er sich mit seinem Werkstück aus und näht in den nächsten zwei Freiarbeitsstunden, während die anderen schreiben oder rechnen, vor sich hin. Die Sonderschullehrerin ist froh, dass er doch noch Gefallen daran gefunden hat. Sie weiß, dass Paul “alles zu seiner Zeit” macht.

Stimmung in der Klasse

Das vierte Integrationskind, Philipp*, ist krank, sodass ich ihn an diesem Vormittag nicht kennen lernen kann. Die Klassenlehrerinnen beschreiben ihn mir als ruhigen Schüler, als Einzelgänger. Philipp, der eine Wahrnehmungsstörung hat, ist erst seit diesem Schuljahr in der Integrationsklasse der Offenen Volksschule und wiederholt gerade die zweite Klasse. Auch er wird wie Paul nach dem Volksschullehrplan unterrichtet und liebt es zu lesen und rechnen, während das Schreiben nicht seine Lieblingsbeschäftigung ist.
In der Pause, nach ein paar scheuen Minuten, in denen wir uns gegenseitig “beschnuppern”, werfen sich bald ein paar aufgeweckte Schüler in gewagte Fotoposen. Florian ist voll mit dabei, zeigt mir seinen Bären, der natürlich auch mit aufs Foto darf sowie auch Paul hoher Turm, den er unter Beobachtung seiner Klassenkameraden mit einiger Fingerfertigkeit aus Bauklötzen und kleinen Büchern errichtet hat. Ich gewinne den Eindruck, dass die Integrationskinder wirklich integriert sind.

Ich frage nach: “Wie war das in der ersten Klasse, als sich die Kinder kennen gelernt haben?” Die Klassenlehrerinnen: “In der ersten Klasse haben die Kinder von Sophies und Florians Lernschwächen noch gar nichts mitbekommen. Sophie ist sehr beliebt bei ihren Mitschülern in der Nachmittagsbetreuung. Dass Paul sehr lebendig ist, haben sie natürlich schnell gemerkt, doch das war auch kein größeres Problem. Die Klasse ist wirklich sehr sozial.”

Nach der fünften Stunde, der Turnstunde, machen sich die Kids erschöpft und zufrieden auf den Heimweg. Um ein schönes Erlebnis, viele neue Eindrücke und eine Zeichnung (“Fantasiekopf”) reicher, verabschiede ich mich mit der Überzeugung: Integrationsklassen braucht das Land!

Zahlen und Fakten

In Wien gibt es 650 Integrationsklassen. Österreichweit war im letzten Schuljahr bei 28.244 SchülerInnen sonderpädagogogischer Förderbedarf gegeben; davon wurden über 52 % in Integrationsklassen unterrichtet.
Wann kann ein Kind (nicht) in einer Integrationsklasse unterrichtet werden?
Ein Kind ist mit Erfüllung des 6. Lebensjahres mit Stichtag 31. August schulpflichtig; den Begriff „Schulreife“, “Schulfähigkeit“ gibt es nicht mehr. Jedes Kind, egal, welche Art und Schwere der Behinderung kann in der Integration unterrichtet werden. Das ist ausschließlich Elternentscheidung (gesetzlich geregelt). Der Bezirksschulrat hat die Eltern zu beraten, in welcher Schule ihr Kind bestmöglich gefördert werden kann. Eltern haben ein Recht auf Integration in Wohnortnähe, aber kein Wahlrecht auf eine bestimmte Schule.

Quellen: Integrationsberatungsstelle des Stadtschulrates Wien; BMBWK bearbeitet von I:Ö (Integration:Österreich)

Foto: Rawpixel.com – shutterstock.com