Mitten im Leben
Ein großer Irrtum unserer Gesellschaft. Denn betroffen sind häufig Frauen, die schon “stabil” im Leben stehen. Wie erfahrene Jongleurinnen hielten sie alles in bewegtem Gleichgewicht. „Als ich sah, der Schwangerschaftstest ist positiv, war das wie ein Erdbeben: Plötzlich bewegt sich der Boden, auf dem du stehst, alles Erreichte ist in Gefahr, alle Kümmernisse, Beengtheiten, die vergangenen Eheprobleme wegen der Kinder – jede Narbe von damals tut wieder weh, die körperlichen und seelischen Schwangerschaftsstreifen jucken von neuem.”
Warum überrascht gerade die nicht mehr ganz jungen Frauen eine unerwünschte Schwangerschaft? Der Frauenarzt Dr. Christian Gusenbauer: “In den sieben Jahren, seit ich meine Praxis führe, sind zum größten Teil Frauen zwischen 35 und 45 Jahren wegen einer unerwünschten Schwangerschaft zu mir gekommen. Sie glauben, ihren Körper perfekt zu kennen.
In einem gewissen Alter, um die 40, bei manchen früher, bei manchen später, kann der Zyklus aber unregelmäßig werden. Wenn man dem nicht Rechnung trägt und rechtzeitig auf eine sichere Verhütung umsteigt, sind unerwünschte Schwangerschaften und in der weiteren Folge Schwangerschaftsabbrüche die Konsequenz.”
Auf und ab
Zum Erschrecken über die Schwangerschaft, zum Zorn über scheinbar sichere Verhütungsmethoden, die versagt haben und den Schuldgefühlen über mangelnde Verhütung kommt häufig der Wunsch des Partners, die Schwangerschaft ungeschehen zu machen:
“Als ich zu Weihnachten den Verdacht hatte, schwanger zu sein, stand für meinen Mann und mich fest: Wir wollen kein drittes Kind mehr! Als dann auch noch Sylvester verging, war ich mir meiner Entscheidung nicht mehr sicher und mein Herz sagte: Behalte das Baby. Aber die Beweggründe und Tatsachen sowie der Verstand und die Vernunft sagten: Abtreiben. Zwei Wochen später ging ich abtreiben und zugleich auch unterbinden.
Als ich nach der Narkose aufgewacht bin, war in meinem Herzen eine Leere. Ich habe geweint und geweint… Mein Mann holte mich vom Krankenhaus ab. Für ihn war die ‚Sache’ erledigt. Aber für mich nicht! Plötzlich sind alle Argumente, die vorher für die Abtreibung gesprochen haben, weg. Warum habe ich das nur getan? Ich weiß es nicht.”
Wie die richtige Entscheidung treffen
Stress vermindert die Entscheidungsfähigkeit und die Fähigkeit, sich an andere um Hilfe zu wenden. Dabei sind Beraterinnen dafür ausgebildet, nicht nur über finanzielle Unterstützungen zu beraten, sondern auch neue Wege aufzuzeigen. „Ich wusste zwar nicht, wie man mir helfen wollte, weil ich persönlich die Situation als ausweglos betrachtete, aber ich ging letztlich hin, um zumindest irgendetwas zu unternehmen.
Dort fand ich viel mehr, als ich zu hoffen wagte. Ich bekam nicht nur die Anteilnahme, die ich brauchte, sondern auch psychologische Hilfe, damit ich wieder auf die Füße kam. Ich bekam Hilfe in rechtlichen Dingen, man half mir, eine Arbeit zu finden und gab mir auf diese Weise eine völlig neue Zukunftsperspektive.”
Neben starkem Stress haben zärtliche Gefühle wenig Platz. Die Schlussfolgerung: “Dieses Kind wäre ungeliebt und würde unter dieser Situation nur leiden” klingt verantwortungsbewusst, geht aber von einer falschen Voraussetzung aus. Denn Gefühle können sich ändern und Verhältnisse auch. “Ich entschied mich für das Kind. Machte auch jede notwendige Untersuchung. Lieben konnte ich meinen Bauch nie.
Zu meinem Baby hatte ich absolut keine Beziehung. ‚Hätte ich doch abgetrieben!’, diese Worte waren immer in meinem Hinterkopf. Auch während der Wehen lehnte ich das Kind noch ab. Erst als sie mir mein Baby auf den Bauch legten, lernte ich es lieben. Mittlerweile ist mein Kind drei Wochen alt und ich bin froh, dass ich es habe. Aber meine Zweifel kommen immer noch, denn bis zuletzt hatte ich immer wieder die Fehlbildung im Hinterkopf.”
Erste-Hilfe-Maßnahmen zur Entscheidung
1. Nützen Sie die Zeit, die Sie haben! Manche Frauen, die die Entscheidung für oder gegen den Abbruch zu lange vor sich her geschoben haben, haben sich im letztmöglichen Moment in Panik für einen Abbruch entschlossen, ohne dass sie diesen Schritt gut genug überlegt haben.
2. Nehmen Sie zwei Blätter Papier: Ein weißes, und eines, dessen Farbe vielleicht dem Geschlecht entspricht, das Sie sich für Ihr Kind wünschen würden. Schreiben Sie auf das weiße Blatt Papier alles, was für den Schwangerschaftsabbruch spricht. Auf das farbige Papier schreiben Sie, was für das Kind spricht. Lassen Sie die Blätter eine Zeit lang liegen und ergänzen Sie langsam.
3. Die Hauptsache ist, zu einer Entscheidung zu kommen, zu der man nachher innerlich stehen kann. Vier Hilfsmaßnahmen helfen bei der Stressbewältigung und zur Entscheidungsfindung:
Bewegung: Bewegen Sie sich mehr als durchschnittlich. Oft genügt es schon, einmal um den Häuserblock zu laufen oder ein paar Kniebeugen zu machen. Bewegung macht meist auch geistig aktiv.
Schlaf: Wer vor Sorgen nicht mehr richtig schläft, verliert seine Entscheidungsfähigkeit. Wenn Sie nicht schlafen können, fragen Sie Ihren Arzt nach einem milden Unterstützungsmittel für den Schlaf.
Wasser: Gerade in Stress-Situationen ist das Durstgefühl nicht sehr ausgeprägt. Trinken Sie bewusst zwei bis drei Gläser Wasser.
Glück: Versuchen Sie, Ihr Problem eine Weile zur Seite zu schieben und machen Sie sich eine Freude: Etwas Gutes essen, ein paar Takte schöner Musik hören, ein Gespräch mit lieben Freunden führen, ein paar Seiten eines guten Buches lesen….
4. Suchen Sie Rat: Die Berater und Beraterinnen bei den unten stehenden Adressen und Telefonnummern unterstützen Sie gerne ganz konkret und natürlich kostenlos. Es sind ausschließlich Beratungsstellen, denen es nicht primär darum geht, Frauen von einem Abbruch abzuhalten, sondern die helfen, eine Entscheidung zu treffen, zu der man stehen kann.
Verantwortung übernehmen für das, was nicht zu ändern ist
Manche Frauen erleben durch den Abbruch, dass sie fähig waren, eine schwere Entscheidung sehr überlegt zu treffen. Unmittelbar nach dem Schwangerschaftsabbruch haben viele Frauen zwiespältige Gefühle, oft überwiegt die Erleichterung.
Während kurz nach dem Abbruch den Frauen Mitgefühl entgegengebracht wird, können sie selbst und andere nicht verstehen, wenn Kummer, Ängste und Schuldgefühle erst später, manchmal erst am ersten Jahrestag des Schwangerschaftsabbruchs oder bei der nächsten Schwangerschaft auftauchen.
Frauen, die einen Abbruch für notwendig halten, weil sie vor der Wahl zwischen beruflichem Vorwärtskommen und dem Kind stehen, entwickeln nach dem Abbruch oft viel Energie und Kraft: Sie beweisen sich, dass die Entscheidung richtig war, indem sie sehr erfolgsorientiert leben und vielleicht ganz auf Kinder verzichten. Es kann passieren, dass diese Frauen mit Beginn der Wechseljahre in eine depressive Krise geraten: “Hätte ich das Kind doch damals nicht abgetrieben, dann hätte ich jetzt zumindest eines.”
Sich erinnern, was war
Erinnerung kann grausam sein, aber auch wohltuend. Es ist gut, genau und umfassend wissen zu wollen, was war, wie alles gekommen ist. Das kann sehr weh tun und es kann sein, dass man dabei eine Begleitung braucht
Abschiedsrituale und Vergebung
Was immer die Wissenschaft sagt: Viele Frauen, die unter einem Abbruch leiden, sehen das Ungeborene als Person, als Kind, das nicht geboren werden konnte. Die meisten haben ein sehr sicheres Gespür, ob sie einem Buben oder einem Mädchen das Leben geschenkt hätten. Ein wichtiger Prozess der Heilung ist es daher, dem Kind einen Namen zu geben. Denn es ist leichter, mit Menschen eine Beziehung aufzunehmen, die einen Namen haben:
Schuldgefühle können auch bei Frauen ohne religiöse Bindung auftreten. Es kann helfen, zum Familiengrab zu gehen, eine Kerze anzuzünden und das Kind um Vergebung zu bitten: “Ich habe mich damals nicht rausgesehen, ich habe es nicht besser gewusst. Trotzdem war es nicht richtig. Aber jetzt nehme ich dich wichtig und du hast einen wichtigen Platz in meiner Erinnerung.”
Selbstwert wiederherstellen
Wer entgegen seinem eigenen Selbstbild handelt oder behandelt wird, empfindet Scham. Scham löst in uns den Wunsch aus, sich von uns selber entfernen zu können. Aber wer lernt, sich selbst trotz seiner Fehler lieb zu haben, wird nicht nur toleranter, er kann eine ganz neue Lebensqualität gewinnen.
Zuhören lassen – auch von Profis
Karin Lamplmair, die sehr unter den Folgen ihrer Abtreibung litt, hatte einen festen Entschluss gefasst: Sie würde dafür sorgen, dass andere Frauen nicht so unwissend in einen Schwangerschaftsabbruch hineinschlittern wie sie selbst. Sie schrieb ein Buch, verfasste Broschüren für Frauen vor und nach dem Schwangerschaftsabbruch und sprach mit vielen Ärzten, Hebammen und machte betroffenen Frauen Mut.
Bei Problemen nach einem Schwangerschaftsabbruch kann man sich manchmal selbst nicht mehr helfen. Es ist wichtig, jemanden zu finden, der wirklich nie sagt: “Jetzt hast du mir schon so oft davon erzählt, denk’ doch bitte mal an etwas anderes.
” Angehörige und auch Freunde und Freundinnen fühlen sich oft sehr hilflos, wenn sie einer Frau in ihrem Schmerz helfen sollen. Bitte scheuen Sie sich nicht, Hilfe zu suchen. Wenn Ihnen ein Mensch bei einer der genannten Beratungstellen nicht sympathisch genug ist – kontaktieren Sie eine andere Adresse.
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise wie einem Vogel
die Hand hinhalten.
Text: Jürgen Steiner
Foto: Lucky Business/Shutterstock.com