Schon ein kurzer Internetstreifzug zeigt: Stammzellen sind ein brandheißes Thema, an dem viele Forschungsteams mit Hochdruck arbeiten.
Häufig geht es bei Stammzellenfoschung um „Regenerative Medizin“ und um das Nachzüchten bestimmter Gewebetypen, das „Tissue Engineering“.
Zuerst eine Begriffsbestimmung
Was genau sind Stammzellen? Stammzellen sind undifferenzierte Zellen, die sich unbegrenzt vermehren und in die verschiedensten spezialisierten Zelltypen weiterentwickeln können, z. B. in Muskelzellen, Blutzellen oder Nervenzellen. Diese Eigenschaft bezeichnet man als „Pluripotenz“ (pluripotent = wörtlich: zu vielem fähig). Es gibt zwei Typen von Stammzellen: adulte („erwachsene“) und embryonale Stammzellen. Bei Letzteren wird zwischen pluripotenten und totipotenten Zellen unterschieden (totipotent = wörtl. zu allem fähig; gemeint ist, dass aus einer einzigen Zelle ein vollständiges Lebewesen entstehen könnte).
Ihr Vorkommen
Embryonale Stammzellen werden dem Zellinneren weniger Tage alter Embryonen entnommen. Adulte Stammzellen lassen sich bis dato in rund 20 Organen des Körpers nachwei- sen; auch Nabelschnur- bzw. Plazentarestblut, das nach der Abnabelung des Kindes in Nabelschnur und Plazenta verbleibt, enthält adulte Stammzellen. Adulte Stammzellen haben ein geringeres Entwicklungspotenzial und eine kürzere Lebensdauer als embryonale Stammzellen. Sie sind bereits so weit ausdifferenziert, dass nur noch bestimmte Zelltypen aus ihnen entstehen können. Dafür haben sie den Vorteil, dass sie den PatientInnen ohne Schwierigkeiten entnommen und dann im Labor durch Zugabe von Wachstumsfaktoren zu einem bestimmten Zelltyp entwickelt werden können. Da es sich um dasselbe genetische Material handelt, kommt es bei der „Rücktransplantation“ zu keinen Abstoßungsreaktionen.
Standardtherapie
Bereits heute werden adulte Stammzellen bei der Behandlung von Störungen der Blutbildung (z. B. Anämien), aber auch in der Therapie von Blutkrebserkrankungen (z. B. bestimmten Formen der Leukämie) eingesetzt. Dabei dienen die Stammzellen nicht der ursächlichen Bekämpfung der Krankheit, sondern dem Wiederaufbau des durch die aggressive Chemotherapie geschädigten Knochenmarks. Die Stammzellenforschung kennt aber noch viel mehr potenzielle Einsatzgebiete.
Nie mehr Insulin spritzen
Diabetes Typ I ist eine Autoimmunerkrankung: Die körpereigene Abwehr zerstört die insulinproduzierenden Betazellen der „Langerhansschen Inseln“ der Bauchspeicheldrüse. Das bedeutet für die Betroffenen, dass der Blutzuckerspiegel mehrmals am Tag gemessen werden muss und ohne mehrfache tägliche Insulinzufuhr mittels Spritzen oder Pumpe ein Überleben nicht möglich ist. Jeder Bissen und jedes Getränk müssen wohl überlegt sein. Diabetes Typ I ist zwar weniger häufig als andere Diabetesformen, dennoch leiden Millionen Menschen daran, unter ihnen viele Kinder. Einem Forschungsteam der Universität Sao Paulo ist es gelungen, 14 von 15 Versuchspersonen durch eine Stammzellentransplantation nach vorausgehender Immunsuppression sechs bis 15 Monate lang insulinunabhängig zu machen. (Quelle: Journal of the American Medical Association, April 10, 2007)
Keine Angst vor Herzinfarkt
Im Falle eines Herzinfarktes sollen Stammzellen die Regeneration des durch die unterbrochene Versorgung geschädigten Gewebes bewirken. Besser noch, es kommt gar nicht zum Infarkt. Heute weiß man nämlich, dass nicht nur Gefäßverengungen ein Risiko darstellen, sondern auch Ablagerungen, so genannte „Plaquebeete“ in den Herzkranzgefäßen, wenn sie sich entzünden. Dabei handelt es sich um eine nicht- bakterielle Entzündung. Das entzündete Gewebe weicht auf, das geschwächte Gefäß reißt – auch bei nur mäßiger Verengung – leicht ein, die Folge ist ein Herzinfarkt. Stammzellen können die entzündeten Gefäße wieder „kitten“. Wie genau, das wird gerade erforscht.
Angeborene Herzklappenfehler
Bis heute werden nur künstliche Herzklappen aus Kunststoff, Schweineherzen oder Organspenden transplantiert. Biologische Ersatzklappen haben aber nur eine begrenzte Haltbarkeit, Klappen aus Kunststoff erhöhen das Risiko von Infektionen und lebensbedrohlichen Blutungen. Für Kinder haben diese Implantate einen weiteren gravierenden Nachteil: Sie wachsen nicht mit. Gelingt es jedoch, eine „neue” Herzklappe aus Stammzellen zu züchten, wird sie in der Lage sein mitzuwachsen. Tierversuche waren bereits erfolgreich. Bevor diese Möglichkeit aber als Standardtherapie eingesetzt werden kann, muss das langfristige Verhalten der „gezüchteten“ Herzklappe noch beobachtet werden.
Kein Ärger mit Prothesen mehr
Die Lebensdauer künstlicher Gelenke ist begrenzt und ein Austausch maximal dreimal möglich. Am Universitätsklinikum an der Technischen Universität Dresden wurde ein Verfahren zur Verlängerung der Lebensdauer von Prothesen entwickelt. Dazu entnimmt man den PatientInnen Stammzellen aus dem Beckenkamm und reichert sie dann mit Wachstumsfaktoren an. So sollen sie sich zu Knochenzellen entwickeln. Dieser Stammzellencocktail wird dann in das Areal rund um die Prothese gespritzt, die dadurch viel besser „anwachsen“ soll. Klinische Studien sind bereits angelaufen.
Hilfe in der Unfallchirugie
UnfallchirurgInnen sehen sich häufig mit großflächigen Verletzungen konfrontiert: Knochenbrüchen, zerrissenen Bändern und Sehnen, Knorpelverletzungen, Bindegewebsschäden. Wie soll das alles wieder heil werden und zusammenwachsen? Noch dazu, wenn viel Knochensubstanz oder Gewebe zerstört worden ist, d. h. schlicht und einfach fehlt. Gelingt es, das benötigte Gewebe nachzuzüchten, dann sollen sich solche Probleme in Zukunft mithilfe von Stammzellen leichter und besser lösen lassen. In der Orthopädie erhofft man sich Hilfe bei Bandscheibenproblemen und bei Knorpelschäden, besonders im Knie.
Neue, spezialisierte Zellen
Parkinson, Lähmungen aufgrund einer Wirbelsäulenverletzung, Sehbehinderung und Gehörverlust – das Problem bei all diesen Krankheitsbildern sind starke Schädigungen bestimmter Zelltypen: Was, wenn sich einfach neue, gesunde, spezialisierte Zellen nachzüchten ließen? Auch daran wird geforscht! „Schöne neue Welt“ … Wo viel Licht ist, da ist aber auch viel Schatten:
Stammzellentherapie und Krebs
Können Stammzellen Krebs verursachen? Diese Befürchtung besteht. Dabei gilt es zu prüfen, inwieweit ein mögliches erhöhtes Krebsrisiko auf das Konto der Stammzellen selbst oder nicht eher auf jenes der Immunsuppression zur Vermeidung der Abstoßung geht. Andererseits hat sich bereits gezeigt, dass Stamm- zu Krebszellen entarten können, im Labor und im Körper selbst. Diese neue Erkenntnis der Krebsforschung erklärt, warum es nach überstandener Krebserkrankung zu Rückfällen kommen kann: Einige zu Krebszellen mutierte Stammzellen haben überlebt. Die Körperpolizei hat sozusagen die Seiten gewechselt. Nun wird daran gearbeitet, solche Mechanismen zu unterbinden bzw. vor einer Stammzellentransplantation mögliche Übeltäter zu entfernen. Das kann dauern.
Die Fortschritte der „traditionellen“ Medizin
Vor diesem Hintergrund gilt es einen Blick auf die Fortschritte der „traditionellen” Medizin zu werfen: Univ. Prof. Dr. Christian Krenkel von der Salzburger Paracelsus Universität hat ein marktreifes Verfahren zur Neubildung von Kieferknochensubstanz vorgestellt, den „Krenkel-Endodistraktor“. (Ein Distraktor ist ein chirurgisches Instrument, das zur kontrollierten Spreizung von Knochen und zur erwünschten Knochenneubildung eingesetzt wird. Endo = griechisch für „innen“). Das Besondere am Krenkel-Endodistraktor, der wie eine Art Implantatschraube aussieht, ist die Präsizision der Knochenneubildung. Das Geheimnis: Die neu gebildeten Knochenzellen nutzen die örtlich vorhandene genetische Information.
Woher kommen die Embryonen?
Embryonale Stammzellen sind die brisanteste Ware auf dem Forschungsmarkt. Sie müssten nicht erst aufwändig vermehrt werden und seien besser für Forschungszwecke geeignet, heißt es. Ob das tatsächlich stimmt, ist noch nicht erwiesen. Und es gibt ein schwer wiegendes ethisches Problem: Die Stammzellenentnahme tötet den Embryo. Bis dato finden sich drei Quellen zur Gewinnung embryonaler Stammzellen:
• Überzählige befruchtete Eizellen aus der In-vitro-Fertilisation: Zunächst werden mehrere Eizellen befruchtet, aber nicht alle in die Gebärmutter eingepflanzt.
• Abgetriebene oder abgegangene Föten
• Therapeutisches Klonen: Das therapeutische Klonen dient der Züchtung von Ersatzgewebe aus körpereigenem Material. Eine gespendete Eizelle wird entkernt, mit dem genetischen Material des Empfängers/ der Empfängerin gefüllt und sodann zur Weiterentwicklung stimuliert.
Die Kernfragen der Ethikdiskussion
Wann beginnt menschliches Leben: mit dem Zeitpunkt der Befruchtung oder erst wenn bestimmte Eigenschaften und Merkmale in der Embryonalentwicklung vorliegen? Welche Ziele verfolgen die beschriebenen Forschungen? Ehrenwerte Motive wie die Heilung schwerer, bisher unheilbarer Krankheiten? Gibt es Alternativen? Muss man befürchten, dass die Legalisierung der Klonung embryonaler Stammzellen zu medizinisch-therapeutischen Zwecken früher oder später das ethisch unzulässige Klonen von ganzen Menschen nach sich ziehen könnte? Mit diesen Fragen befasst sich die österreichische „Bioethikkommission“, die aus ExpertInnen unterschiedlicher Fachrichtungen zusammengesetzt ist.
Was ist in Österreich erlaubt und was nicht?
Entwicklungsfähige Zellen dürfen nur für medizinisch unterstützte Fortpflanzungen verwendet werden, nicht für Stammzellforschung, die Gewinnung von (embryonalen) Stammzellen und deren Beforschung ist hierzulande gesetzlich verboten. In der EU ist Österreich eines der kritischsten Länder hinsichtlich Biotechnologie und favorisiert die Forschung an ethisch unbedenklichen adulten Stammzellen. Die öffentliche Diskussion über neue Technologien hat in Österreich große Bedeutung. Erfolge gibt es hier durchaus: So wurden z. B. am Wiener AKH einem Herzinfarktpatienten mittels Herzkatheters und neu entwickelten 3D-Verfahrens von ihm selbst gewonnene Herz-Stammzellen punktgenau in das geschädigte Areal eingesetzt. Auch am AKH Linz implantiert man Stammzellen nach Infarkten. Und der Uniklinik Innsbruck ist weltweit erstmals gelungen, Harninkontinenz mit körpereigenen Stammzellen zu heilen.
Wird es Entnahmetechniken geben, die den Embryo nicht absterben lassen?
Die vielversprechendste Alternative wurde vom Team um den österreichischen Genetiker Prof. Markus Hengstschläger entdeckt: Auch das Fruchtwasser enthält pluripotente oder fast pluripotente Embryonalzellen! Daraus ließe sich eine ethisch unbedenkliche Methode entwickeln, die laut Prof. Hengstschläger in fünf bis zehn Jahren ausgereift sein könnte.
Nabelschnurblut
Bis es dazu kommt, ist die Konservierung von Nabelschnurblut sicher eine gute Sache. Nabelschnurstammzellen sind weniger weit entwickelt als Stammzellen aus dem Knochenmark und damit wandlungsfähiger. Somit lassen sich verschiedene Zelltypen aus ihnen bilden. Außerdem sind sie immunologisch noch nicht so geprägt wie Stammzellen aus dem Knochenmark. Nabelschnurblut enthält keine Tumorzellen und ist nahezu frei von Viren. Das bedeutet ein hohes Maß an Sicherheit. Lässt man Nabelschnurblut konservieren, dann muss es für Ihr Kind kein Traum bleiben: jederzeit ohne Entnahme über eigene Stammzellen verfügen zu können …
Mag. Elisabeth Sorantin
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