2018 waren in Österreich – laut Statistik Austria – fast 23.000 Menschen als wohnungslos registriert. Der Großteil von ihnen lebt in Wien. Rund ein Drittel der wohnungslosen Menschen sind Frauen, teils mit Kindern. Die Wiener Sozialorganisation neunerhaus arbeitet seit Jahren daran wohnungslosen Menschen mit zielgruppengerechten Lösungen und frauenspezifischen Angeboten zu helfen.
Wohnungslose Frauen bleiben in der Öffentlichkeit oft unsichtbar. Frauen, die in Gruppen trinkend zusammenstehen, kennt man nicht aus dem Straßenbild. Aus Schamgefühl, um ja nicht als wohnungslos etikettiert zu werden, geben sich Frauen viel Mühe, eine Fassade von Normalität aufrecht zu halten. Sie achten sehr auf ihr Äußeres und versuchen ihre Notlage mit allen Mitteln zu verstecken.
Doch die Zahlen sind erschreckend: Frauen machen rund ein Drittel der wohnungslosen Menschen in Wien aus – der registrierten, denn die Dunkelziffer ist hoch. Statt auf der Straße landen Frauen daher oftmals auf einer Couch bei FreundInnen und Bekannten – nicht selten monatelang. So auch Esma. „Mir hat niemand angesehen, dass ich keine Wohnung habe“, sagt sie.
Das Problem: Obwohl sie in einer existenziellen Notlage sind, werden die Frauen von Angeboten der Wohnungslosenhilfe oft nicht erreicht. In den klassischen Nachtquartieren in Wien beträgt der Frauenanteil nur 17 Prozent – bei den Einrichtungen des betreuten Wohnens hingegen fast 50 Prozent. Notquartiere sind vielfach nicht auf die Bedürfnisse von Frauen ausgelegt, bieten nur wenig individuellen Schutzraum. Angebote, die sich allein an Frauen richten, sind rar.
Ausharren in Beziehungen
Doch wohin gehen sie? „Sie beginnen oft Beziehungen oder bleiben in zerrütteten Partnerschaften, um eine Wohnmöglichkeit zu haben. Meist leben sie nicht in abgesicherten Verhältnissen, wohnen nur mit“, sagt Daniela Unterholzner, neunerhaus Geschäftsführerin. So genannte Zweck- oder Zwangsgemeinschaften sind unter wohnungslosen Frauen weit verbreitet. Alles scheint besser, als die Nächte in einer Notunterkunft zu verbringen. Speziell wenn Kinder im Spiel sind, harren Frauen oftmals sehr lange in Beziehungen aus.
20.000 Fälle von häuslicher Gewalt – Tendenz steigend
Dabei ist die Wohnung für Frauen oftmals kein sicherer Ort. Im Jahr 2019 wurden allein in Wien knapp 20.000 Fälle von häuslicher Gewalt gemeldet. 83 Prozent der Geschädigten waren Frauen und Mädchen. Das Pandemiejahr 2020 hat diese Entwicklung nochmals verschärft: Die österreichweite Frauenhelpline gegen Gewalt verzeichnete im März, April und Juni 2020 71 Prozent mehr Anrufe als im Jahresdurchschnitt.
Was Frauen hilft: eine eigene Wohnung. Ein Ort, an dem sie ankommen und ihr Leben neu sortieren können, selbstbestimmt. Das ist die Idee hinter dem neunerhaus-Angebot Housing First. MieterInnen bekommen eine leistbare Wohnung mit eigenem Mietvertrag, dann kümmert man sich um alles andere. 2020 betrug der Anteil der Frauen bei Housing First 54 Prozent. „In den eigenen vier Wänden kann man wirklich zur Ruhe kommen und wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Eine eigene Wohnung gibt Zukunftsperspektiven, Stabilität und Selbstvertrauen“, so Daniela Unterholzner.
Keinen Tag länger warten
Esma M. ist schon in ihren eigenen vier Wänden angekommen. Zunächst bekam sie eine Übergangswohnung für ein Jahr – nun hat sie einen unbefristeten Mietvertrag. An die erste Nacht in der Wohnung erinnert sie sich gut: Außer einer Matratze auf dem Boden war da nichts. Dennoch wollte Esma sofort einziehen: „Ich wollte nicht mehr warten! Es war mein Boden, meine Wohnung. Das war mir so wichtig!“
Dass Esma M. heute so offen über ihre Erfahrungen spricht, hat einen Grund: Sie möchte anderen Frauen in ähnlichen Lebenssituationen zeigen, dass sie nicht alleine sind. Dass der Verlust der Wohnung kein persönliches Versagen ist, sondern alle treffen kann. Dass jeder Mensch das Recht auf eine Wohnung hat. Noch etwas ist Esma wichtig: „Ich habe gelernt, dass ich auch schwach sein kann und darf. Ich muss nicht immer Xena, die Kriegerin sein.“
Bild: neunerhaus/ HAVAS
Stories zum Thema:
„Experten rechnen mit tausenden Obdachlosen mehr und fordern Härtefallfonds“ – Der Standard am 01.05.2020