Österreichs Lehrer/innen fühlen sich allein gelassen. In einem offenen Brief kritisieren sie das Unterrichtsministerium für die fehlende Dialogbereitschaft. Die Lehrer/innen werden von „oben herab“ behandelt, heißt es.
Österreich ist anders. Während Frankreichs Lehrer/innen vor rund einer Woche streikten und auf die Straße gingen um gegen den Corona-Schlingerkurs der Regierung zu protestieren, schreiben die österreichischen Lehrergewerkschafter einen offenen Brief. Die „Erschöpfung und Verzweiflung haben ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht“ hieß es vor einer Woche in einer gemeinsamen Erklärung von elf französischen Gewerkschaften: „Die Vorgaben zum Schutz der Schülerinnen und Schüler sowie des Personals seien ständig geändert worden. Zudem fehle es an geeigneten Instrumenten, um einen ordentlichen Ablauf an den Schulen zu gewährleisten. Es mangele auch an Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit.“ (Bericht dazu hier Der Spiegel online: »Erschöpfung und Verzweiflung haben ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht«)
Ähnlich argumentieren auch die österreichischen Lehrer/innen von der Gewerkschaftsfraktion ÖLI-UG (im vollen Wortlaut: Österreichische Lehrer*innen Initiative – Unabhängige Gewerkschafter*innen für mehr Demokratie). Sie werfen dem Unterrichtsministerium vor, dass die Verantwortlichen Pressekonferenzen abhalten und dann widersprüchliche Verordnungen und Erlässe ausschicken. Auch die Bildungsdirektionen in den Ländern seien da mitunter keine besondere Hilfe gewesen, wie Recherchen von fratz.at erbrachten. Die – zum Teil seitenlangen Erlässe aus dem Ministerium formuliert im besten „Juristendeutsch“ – seien unkommentiert einfach weitergeleitet worden. Bei Rückfragen sei niemand erreichbar gewesen, erzählt ein Informant.
Auslöser für das Protestschreiben, das verschiedenen Medien zugespielt wurde, ist das aktuelle Test-Chaos an den österreichischen Schulen. Mitten in der Omikron-Welle, die Tag für Tag in den Medien ausgeschlachtet wird, ist das Testsystem an den Schulen anscheinend zusammengebrochen (siehe u.a. Bericht der Wiener Zeitung: Testchaos an Schulen, Ministerium prüft rechtliche Schritte.)
In dem offenem Brief, der von mehr als 30 Lehrer/innen unterzeichnet wurde heißt es unter anderem: „Der Versuch des BMBWF, für sichere Schulen zu sorgen, gleicht seit langem einer Schmierenkomödie! Das Lachen ist uns aber schon lange vergangen. Bei der Versorgung mit flächendeckenden PCR Tests jetzt mitten in der Omikron Welle funktioniert nichts wie geplant!“
Im folgenden lesen Sie den offenen Brief im vollen Wortlaut:
„Lehrergewerkschafter*innen: Wir alle sind sauer!
Der Versuch des BMBWF, für sichere Schulen zu sorgen, gleicht seit langem einer Schmierenkomödie! Das
Lachen ist uns aber schon lange vergangen.
Bei der Versorgung mit flächendeckenden PCR Tests jetzt mitten in der Omikron Welle funktioniert nichts wie geplant! Es funktioniert nur in Wien und dort ausschließlich deshalb, weil die Bundeshauptstadt von Anfang an selbst Sorge für die Umsetzung trug und einen komplett anderen Weg einschlug als vom Ministerium vorgegeben!
Wir haben noch keinen größeren Dilettantismus erlebt als jetzt. Schlechte AG-Tests, PCR-Testchaos in den Bundesländern und eine seltsame Ausschreibung: Das BMBWF versagt bei Schultests komplett. Generalsekretär Netzer steht hier in kontinuierlicher Verantwortung.
Leider müssen wir öffentlich ausrichten, dass jetzt der Zeitpunkt ist, um die Qualität der PCR-Schultests durch die unterschiedlichen Anbieter in einem Ringversuch zu evaluieren. Anlass dafür sind die vielen anekdotischen Berichte von positiven Antigentests, die sich durch die „Alles Spült“-PCR-Tests nicht bestätigen ließen und österreichweit für fassungsloses Kopfschütteln sorgen.
Nach zwei Jahren katastrophalem Pandemiemanagement ist das Lehrpersonal wütend und verzweifelt, weil sich in den Schulen nichts bessert. Von Dialogbereitschaft ist im Ministerium keine Spur. Das Bildungsministerium handelt noch immer von oben herab, ohne sich für die Herausforderungen an den einzelnen Schulstandorten zu interessieren.
Schule funktioniert nur aufgrund des großen Engagements der Lehrpersonen an den einzelnen Schulstandorten, aber ohne wirkliche Unterstützung durch die Bildungsverantwortlichen. Diese schotten sich ab, halten Pressekonferenzen und schicken dann widersprüchliche Verordnungen und Erlässe. Genauso chaotisch laufen die Beschaffungsvorgänge für die Schultests: Egal ob Antigentests oder PCR-Tests, die einzige Konstante ist, dass die Verantwortlichen die schlechteste Wahl treffen.
Nach zwei Jahren sind viele von uns jetzt müde, ausgebrannt, resignieren oder ziehen sich zurück. Unter solchen Bedingungen wollen wir nicht arbeiten! Die Verantwortlichen sprechen von schulischer Normalität. Das zeigt doch, dass sie Schule von innen gar nicht kennen.
Schule kann für Kinder und Jugendliche nicht stabilisierend wirken, wenn sie durch ständige Infektions- und Quarantänefälle im Chaos versinkt. „Sichere Schule“ ist nur ein politisches Narrativ. Diese Erzählung hat noch nie gestimmt. Besorgniserregend sind die Schuldgefühle junger Menschen in der Pandemie aufgrund der krankmachenden Zustände an den Schulen: Die Sorge, sich anzustecken und andere zu gefährden – genauso wie der massive Leistungsdruck.
Der in der Schule erlebte Dilettantismus und die Ignoranz gegenüber unserem Leidensdruck belasten Kinder und Jugendliche, denen dieses Missmanagement unbelastete Jugendzeit stiehlt und womöglich weitreichende Folgen für die Zukunft verursacht; und dies belastet auch uns Lehrpersonen.
Für die ÖLI-UG-Lehrer*innenvertretung:
Claudia Astner, Vorsitzende der ÖLI-UG
Hannes Grünbichler, Vorsitzender der ÖLI-UG“
Den offenen Brief als PDF gibt es hier zum Download:
Mehr über die „Österreichische Lehrer*innen Initiative – Unabhängige Gewerkschafter*innen für mehr Demokratie“ erfahren Sie hier: https://www.oeliug.at/
Bild: Sujet pixabay_Engin_Akyurt
kf/22.01.2022