Gesamtschule: Die gemeinsame Schule, die nicht trennt

Als Elternteil eines Kleinkindes blickt man in Österreich momentan ins schulisch Ungewisse. Die Ausbildung ist auf dem Prüfstand und die Gesamtschule vielleicht bald auf dem Lehrplan. Wohin werden unsere Sprösslinge dann die Schultüte tragen? In die good, old Volksschule? Oder wird schon die Gesamtschule (schul)versucht werden?

Gesamtschule – Was ist das eigentlich?

Nichts ungewöhnliches, wenn man bedenkt, dass es  in Österreich seit langem Gesamtschulen gibt. Zumindest grob betrachtet. Von 6 bis 10 Jahren nämlich, da heißen sie Volksschulen. Oder auch manche ländlichen Hauptschulen, die mangels nahen AHS-Standorten von so gut wie alle Kinder aus der Region besucht werden.

Das heißt, ‚Gesamtschule’ steht für die Idee, dass alle Kinder einer bestimmten Altersklasse bzw. generell für die Dauer der Schulpflicht (9 Jahre) den gleichen Schultyp besuchen und nicht – nach Begabung, sozialem Hintergrund oder warum auch immer – in verschiedene Schulformen sortiert werden. Von 6 bis 15 Jahren gäbe es also eine gemeinsame Schule für alle. Danach erst trennen sich die Ausbildungs- bzw. Lebenswege der Jugendlichen.

Das ‚Zusammen-Sein und -Bleiben’ ist aber nur ein Aspekt der Gesamtschule. Gleichzeitig findet ein ‚Individuell-Sein’ statt – nämlich in verschiedenen Leistungskursen, Projekten und Förderstunden. Aber eben innerhalb einer Schule.

Status quo – ein Auffrischungskurs

Zum Vergleich: Bisher erfolgt nach 4 Klassen Volksschule die Aufteilung in Allgemeinbildende Höhere Schulen (AHS-Unterstufe) oder Hauptschulen. Strebt man in eine AHS, sollte im (Semester-)Zeugnis der 4. Klasse in Deutsch, Lesen und Mathe maximal ein ‚Gut’ aufscheinen. Andernfalls lässt sich die AHS noch durch die Hintertüren ‚Aufnahmeprüfung’ oder ‚Eignungsfeststellung der Schulkonferenz der Volksschule’ betreten.
In der Realität der Massen-Anmeldungen an den (Ballungsraum-)AHS stehen VolksschullehrerInnen oft unter Druck, ja lauter Einser zu vergeben. Als Eintrittskarte in die Wunsch-AHS. Mangels einheitlicher Richtlinien zur Notengebung (sog. Bildungsstandards) fehlt ihnen wohl manchmal ein Gegenargument.

Kleine Zahlen-Schule

Im Schuljahr 2005/06 gab es in Österreich insgesamt knapp 1,2 Millionen Schüler und Schülerinnen. Rund 264.000 besuchten ca. 1.170 Hauptschulen. Während gut 201.000 in knapp 330 AHS dem Unterricht folgten. (Der Rest verteilt sich auf Volks-, Sonder- und Polytechnische Schulen, sowie berufs- und lehrerbildende Schulen.)

(Quelle: Website des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur)

Warum soll sich überhaupt etwas ändern? – Pro & Kontra Gesamtschule

Unterrichtsministerin Claudia Schmied nennt schon die wichtigsten Pro-Argumente, wenn sie an der aktuellen Situation kritisiert: „Dass der weitere Bildungsweg heute mit neuneinhalb Jahren entschieden wird, dass der Schulbesuch eine Frage der sozialen Schichten ist, dass ein 3er in der Volksschule einen besseren Bildungsweg verbaut, dass alle in die AHS streben und die Hauptschulen leer stehen […].“ (Kurier, 10.4.07).

10 ist zu jung
Tatsächlich ist der Grundtenor von Bildungsforschung und Entwicklungspsychologie, dass das Alter von knapp 10 Jahren viel zu früh ist, um nach vermeintlichen Eignungen auseinander geklaubt zu werden. Karl Heinz Gruber, Wegbereiter der Erziehungswissenschaften in Österreich, bezweifelt die Prognose-Eignung von Volksschulnoten (Der Standard, 22.3.07).

10 ist ungerecht
Die Studie ‚Familie und Ausbildung’ (2003) des Österreichischen Instituts für Familienforschung belegt, dass ein Kind sehr wenig für seine Bildungs-Chancen (tun) kann. Denn sie sind massiv vom Bildungsstand der Eltern abhängig. Und zudem in der Stadt größer als am Land ist. Ein Beispiel: Ein Mädchen mit Akademiker-Eltern, das in der Stadt lebt, kommt nach der Volksschule mit einer Wahrscheinlichkeit von 86 % in die AHS-Unterstufe – ein Bub vom Land hingegen, dessen Eltern über einen Pflichtschulabschluss verfügen, hat darauf bloß eine 7 %-ige Chance. Oder wie es Christoph Chorherr, Grüner Politiker in Wien, formuliert: „Wegen dieser frühen Selektion sind Karrieren in Österreich ebenso vererbbar wie Armut.“ (Die Presse, 30.4.07). Vom Aufschieben der Entscheidung über die Bildungslaufbahn eines Kindes bis zum 15. Lebensjahr erwarten sich Gesamtschul-Befürworter eine Entkoppelung von elterlichen Vorstellungen und Biografien. Somit mehr Chancengleichheit.

Öffentliche Schulflucht
Gesamtschul-Skeptiker befürchten als Konsequenz einen Run auf ‚bessere’ Privatschulen von Kindern finanzstarker Eltern. Was die Chancengleichheit wiederum aushebeln würde.

Gescheiter. Gemeinsam.
Eine wichtige Idee der Gesamtschule ist, gemeinsam zu leben (und) lernen. Lernschwächere können sich von ihren Kollegen einiges abschauen. Die wiederum stärken ihr eigenes Wissen, wenn sie es Mitschülern weitergeben. Nebenbei wird soziale Kompetenz und Toleranz geübt – im wahrsten Sinne des Wortes .

Um Klassen besser?
Kritiker der ‚Einheitsschule’ sind um das generelle Ausbildungsniveau und wegen einer möglichen ‚Nivellierung nach unten’ besorgt. Sie fürchten um Förderung von Begabungen, Forderung von Leistung und Qualifikation ihrer Kinder.

Kinderfreundliche Differenzierung
Doch Günter Haider, PISA Österreich-Chef, beruhigt und meint, das sei seit den 70ern widerlegt. Voraussetzung und Kernstück der Gesamtschule sei die innere Differenzierung: individuelle Betreuung, Fördergruppen und Projektarbeit. Denn „Die Schüler müssen zum selbständigen Lernen motiviert werden – nur mit Frontalunterricht kann man keine Gesamtschule erfolgreich führen.“ (Oberösterreichische Nachrichten, 27.4.07). Auch Karl Heinz Gruber bekräftigt, dass in allen Gesamtschulsystemen viel kinderfreundlicher und erfolgreicher differenziert, individualisiert und gezielt gefördert wird (Der Standard, 28.2.05), als im aktuellen System der Trenn-Schärfe.

Ein Blick über den Tafelrand
Spätestens seit PISA 2003 (dem OECD-Programm der internationalen Schülerbeurteilung) stehen die Siegerländer im Rampenlicht – Österreich gehört nicht dazu. Wohl aber Finnland, Kanada, Japan oder Südkorea – alles Länder mit integrierten Bildungssystemen, in denen sich Lehrer individuell um alle Schüler kümmern müssen, und die Schule Verantwortung übernehmen muss, anstatt sie auf andere Schulformen abzuwälzen, erläutert PISA-Erfinder Andreas Schleicher (Der Standard, 5./6.5.07). Und das tun sie meist seit vielen Jahrzehnten. In Finnland, dem PISA-Siegerland, wurde die ‚Gemeinsame Schule für unterschiedliche Lerner’ (Originalübersetzung) vor über 30 Jahren umgesetzt. So wie in ganz Skandinavien. Gegen viel Widerstand, wie Rainer Domisch, finnischer Bildungsexperte berichtet (Profil, 30.4.200). Und: „Inzwischen steht die Schule so außer Frage wie die Wasserversorgung.“ Kein Wunder bei diesem Spitzen-Zeugnis. Und, noch wichtiger, bei einer statistisch durchschnittlichen Klassengröße von 15 Schülern – dank Fördergruppen und sogar Einzelunterricht.

Österreichische Verhältnisse
Unterdessen überschlagen sich einige Bundesländer mit Ideen zu Schulversuchen und Modellregionen. Wobei Unterrichtsministerin Claudia Schmied und ihr Berater, Günter Haider, für eine etwaige Gesamtschul-Einführung von einer Vorbereitungsphase bis zumindest 2010 ausgehen. Viele Fragen sind noch zu klären: Lehrerausbildung und -entlohnung (beides ist momentan für AHS und Hauptschule unterschiedlich geregelt), Zuständigkeiten (Bund/Land), Anzahl der Kinder und Lehrer pro Klasse, Leistungsstandards, Gestaltung der Fördermaßnahmen u. v. m. Karl Heinz Gruber vermisst noch den ‚Masterplan’, der Unterrichtsmaterialen, Lehrpläne, Lehrerfortbildung und den Umgang mit Schulversuchen generell regelt (Der Standard, 2.5.07). Der finnische Experte, Rainer Domisch (Profil, 30.4.200), sieht jedenfalls voraus: „Entscheidend ist nicht, was die Lehrer unterrichten, sondern was die Kinder lernen. Dieser Paradigmenwechsel kommt auch in Österreich.“ – Das klingt jedenfalls vernünftig! Egal, was dann auf dem Schultor steht, durch das unsere Kinder ihre Schultüten tragen werden.

Parteien-Befragung

FRATZ&CO hat die österreichischen Bundes(!)parteien befragt, ob die Gesamtschule eingeführt werden soll – oder nicht. Und wie die jeweilige Definition von Gesamtschule aussieht. Hier lesen Sie die Standpunkte (Antwortzeitpunkt Ende April 07).

SPÖ
Pro: „Die SPÖ ist für eine gemeinsame Schule der 10- bis 15-Jährigen. Alle Experten/innen und internationale Studien sagen uns, dass eine Trennung mit zehn Jahren viel zu früh ist. Soziale Unterschiede werden verstärkt, Talente und Begabungen bleiben auf der Strecke.“
Und so sieht sie aus: „EINE Schule für alle Kinder und Jugendlichen von 6 bis 15, wohnortnah, mit völlig unterschiedlichen Kindern, wie die Menschen eben sind und in der jedes Kind bestmöglich gefördert wird. Individueller Unterricht in heterogenen Gruppen lautet dafür die international übliche Fachbezeichnung. Die Schulen werden integrativ geführt, d.h. Kinder mit Behinderungen gehören dazu. Sitzenbleiben gibt es nur in Ausnahmefällen, Leistung wird durch positive Motivation und weniger durch Notendruck erzeugt. An allen Schulen gibt es Ganztagsangebote mit Mittagstisch, sie bieten hervorragende pädagogische Möglichkeiten, die Schüler ganzheitlich – Kreativität, Musik, Sport, soziales Lernen – zu fördern.“
Erwin Niederwieser, Bildungssprecher

ÖVP
Kontra: „Die ÖVP tritt für ein differenziertes Schulangebot ein, weil es sich bewährt hat.“
Und so sieht sie aus: „Gesamtschule ist ein einziges schulisches Angebot für die 10 bis 15
jährigen Schüler.“
Fritz Neugebauer, Abgeordneter zum Nationalrat

Grüne
Pro: „Ja, weil nur eine gemeinsame Schule individuelle Förderung bei gleichzeitiger Chancengleichheit bieten kann. Voraussetzung ist aber eine entsprechende Ausstattung mit Lehrpersonal und individuell anzupassende Teile im Lehrplan.“
Und so sieht sie aus: „Die grüne gemeinsame Schule umfasst die ersten 9 Schulstufen, also den gesamten Pflichtschulbereich von 6 bis 15 Jahren. Vorzugsweise wird der Unterricht ganztägig (von 9-15 Uhr, Betreuung bedarfsgerecht von 7:30 bis 18:00) organisiert, damit Lern-, Erholungs- und Spielphasen kindgerecht über den Tag verteilt werden und auf individuelle Bedürfnisse eingegangen werden kann. Nachmittags geht es dann ohne Hausaufgaben nachhause und in die Freizeit. Leistungsbeurteilung ist in den höheren Klassen notwendig um Anrechenbarkeiten zu gewährleisten, in den Eingangsjahren sollte sich dies aber auf mündliche und schriftliche Erfolgsfeststellungen beschränken. Leistungsbeurteilung muss nachvollziehbar sein und primär Fortschritte dokumentieren. Die gemeinsame Schule soll die Regelschulform darstellen, alternative Schulformen und Privatschulen können – wie bisher – weiterhin daneben bestehen.“
Dieter Brosz, Bildungssprecher

FPÖ
Kontra: „Nein, die FPÖ spricht sich gegen eine Gesamtschule aus. Wir wollen eine optimale Förderung unterschiedlicher Begabungen und eine Förderung der Leistungsorientierung. Gemeinsamer Unterricht hoch- und minderbegabter führt zu Frustration. (…) Die PISA-Studie hat ergeben, dass in Ländern wie z.B. Deutschland mit differenziertem Schulwesen die höheren Schulen ein besseres Niveau haben
Und so sieht sie aus: „Die Gesamtschule bedeutet einen bildungspolitischen Einheitsbrei. Wenn, müssten wir von der „gemeinsamen Schule“ sprechen. Dies beträfe die Schüler zwischen 6 und 14 Jahren. Wir bekennen uns allerdings zum differenzierten Schulsystem. Die FPÖ ist für Ganztags-Angebote, dort, wo sie gewünscht werden, aber nicht verpflichtend für Alle. Die Notengebung soll unbedingt beibehalten werden, es sollten allerdings zur besseren Vergleichbarkeit Bildungsstandards auf allen Schulstufen vorgegeben sein.“
Monika Mühlwerth, Bundesrätin

BZÖ
Pro: „Wir wollen unser Bildungssystem fit für die Zukunft machen. Daher ist es zu begrüßen, dass BZÖ-Landeshauptmann Jörg Haider in Kärnten das Projekt „Gemeinsame Schule“ 2008 in Klagenfurt und Villach startet. Dieser Schulversuch ist deshalb interessant, weil die frühe Selektion im Alter von neuneineinhalb Jahren eine besondere Schwäche im derzeitigen Schulsystem darstellt. Das ist ein Zeitpunkt, zu dem die Begabungen und die Talente der Kinder oft noch unklar sind. Deshalb sind wir für ein offenes Bildungssystem, wo jedem der Zugang zu den Bildungswegen offen steht. Die Ergebnisse der Schulversuche wird zeigen, ob diese neuen innovativen Ansätze der Bildungsweg der Zukunft ist.“
Und so sieht sie aus: „Wir sprechen von gemeinsamer Schule der 10 bis 15 Jährigen mit leistungsorientierter, inneren Differenzierung und optimaler Vorbereitung im 9. Schuljahr für zukünftige berufliche Herausforderungen.“
Ursula Haubner, Bildungssprecherin

Schulische Zeittafel im heutigen Österreich

1774  Allgemeine Schulpflicht (6-12J) unter Maria Theresia
1830  Kinderbewahranstalten (entspricht Kindergärten) in Wien
1843   Verbot der Fabriksarbeit für schulpflichtige Kinder
1848   Ministerium des öffentlichen Unterrichts
1863  ‚Kindergarten’ in Wien
1869  Schulwesen wird kirchlicher Aufsicht entzogen und Staat unterstellt Achtklassige Volksschule (Pflichtschule)
1872 Mädchen können Externistenmatura an Knabengymnasien ablegen (aber nicht zum Hochschulbesuch berechtigt)
1892  Mädchengymnasium in Wien
1901 Auch Maturantinnen sind nun ‚Reif zum Besuch einer Universität’ – allerdings bei eingeschränkter Studienwahl: philosophische oder medizinische Fakultät
1920  Wiedereinführung des Zölibats für Lehrerinnen: Schuldienst oder Heirat
1923  Haus der Kinder (Montessori-Pädagogik) in Wien
1927  Vierklassige Hauptschule. Für Mädchen an Knabenmittelschulen werden Parallelklassen eingeführt
1938-45 Strikte Geschlechtertrennung; Deklariertes Mädchenbildungsziel im Nationalsozialismus: die Mutterschaft
1971  Aufhebung der AHS-Aufnahmeprüfung. Beginn umfangreicher Schulversuche
1985  Hauptschule erhält Struktur einer integrierten Gesamtschule
1987  Erste weibliche Unterrichtsministerin (Dr. Hilde Hawlicek)
1994  Unterrichtsprinzip ‚Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern
2000  Bewusste Koedukation’ als didaktischer Grundsatz

Quelle: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur

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