Schule in Österreich: Leistungsdruck und „Bulimie-Lernen“ statt Wissen erwerben

Corona ist vorüber – der Frust ist geblieben. Österreichs Schüler:innen stellen dem heimischen Bildungssystem ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Prüfungsflut und Leistungsdruck verhindern nachhaltiges Lernen fürs Leben.

Ständig wachsender Leistungsdruck, ein Stakkato an Prüfungen, Lernstoff, dem wenig Bedeutung für die eigene Zukunft attestiert wird und den man gleich nach der Prüfung wieder vergisst – das Bild, das Österreichs Schüler*innen von der Schule zeichnen, ist teilweise erschreckend. Das geht aus einer aktuellen Umfrage des Nachhilfeinstitutes LernQuadrat hervor.

 

Bulimie-Lernen

„Das sogenannten ‚Bulimie-Lernen‘ hat sich in den letzten sieben Jahren noch einmal deutlich verschlimmert. Mittlerweile erklären bereits 76,6 Prozent der Schüler*innen, dass sie häufig so viel lernen müssen, dass sie das Gelernte nach der Prüfung gleich wieder vergessen“, berichtet LernQuadrat Unternehmenssprecherin Angela Schmidt. Bei einer 2016 durchgeführten Umfrage meinten „nur“ 47%, dass sie das Gelernte gleich wieder vergessen. Mädchen neigen übrigens deutlich öfter als Burschen zum „Bulimie“-Lernen. Bei den älteren Schüler:innen (15-19 Jahr) sind es übrigens fast 80%, die angeben, dass sie den Lernstoff gleich wieder vergessen.

Auch was das Gelernte betrifft fällt das Urteil der Schüler:innen vernichtend aus: Zusammengerechnet 71,8% der Befragten meinen, dass sie in ihrem späteren Leben weniger als die Hälfte oder sehr wenig brauchen werden. Am ehesten wird noch dem Schulfach Englisch ein positives Zeugnis ausgestellt. Immerhin 89,2% meinen, dass dieses Fach wichtig für die eigene Zukunft ist, gefolgt von Deutch (62,6%), Mathematik (60,3%) sowie Geografie und Geschichte, die jeweils über 50% erreichen. Bei den aus Sicht der Schüler:innen „überflüssigen“ Schulfächern führen Bildnerische Erziehung und Musik mit Nennungen von jeweils mehr als 50% gefolgt von Religion (49,9%).

Ideen für spannenden Schulstoff gibt es bei den Jugendlichen durchaus, beispielsweise mehr Finanzbildung, Wirtschaft oder „Alltagskunde“, nicht so sehr hingegen Politik und Kunst.

 

Fast jeden dritten Tag eine Prüfung

Dass für nachhaltiges Lernen wenig Platz bleibt, ist für Angela Schmidt angesichts der herrschenden Flut an Leistungsüberprüfungen nicht verwunderlich. Nach Einschätzung der Schüler*innen gibt es Schularbeiten, Tests und Referate im Schnitt 56 Mal pro Schuljahr und damit an nahezu jedem dritten Schultag. „Primär geht es immer darum, gute Noten zu erhalten. Gelernt wird dementsprechend, was sich halt ausgeht, die Entwicklung von echtem Interesse an den Inhalten kommt dabei oft zu kurz“, erklärt Schmidt. Üblicherweise beginnt erst drei bis vier Tage vor der Prüfung eine etwas tiefere Befassung mit dem Lernstoff, mehr scheint pragmatisch gesehen einfach nicht möglich.

 

Dramatischer Anstieg des Leistungsdrucks

Brutal gestiegen ist laut der Umfrage der Leistungsdruck, den Österreichs Schüler*innen verspüren. 74,9 Prozent machen sich selbst hohen Druck (2016: 43,3 Prozent), 68,3 Prozent verspüren starken Druck seitens der Lehrkräfte (2016: 35,7 Prozent), 44,8 Prozent durch die Eltern (2016: 27,2 Prozent).

Die Corona-Lockdowns und die Erfahrungen während der Pandemie haben ein Übriges getan um den Schüler:innen die Lust auf Bildung zu nehmen. Jede/r Dritte hält jetzt die Freizeit für wichtiger als früher. Lediglich 18,6 % meinen, dass ihnen Schule und Bildung jetzt wichtiger geworden sind.

Dass die Corona-Erfahrungen bei Österreichs Schüler:innen einen „bleibenden“ Eindruck hinterlassen haben untermauern nicht nur zahlreiche Studien, wie jene der Donau-Universität Krems (Artikel dazu siehe hier: Wenn Dreizehnjährige sich umbringen wollen …) sondern auch Schilderungen von Lehrerinnen wie Maria Lodin, die im Jänner des Vorjahres im Standard schrieb: „Fast zwei Jahre lang habe ich bestritten, dass diese Schülerinnen und Schüler einer verlorenen Generation angehören. Ich war überzeugt, dass Defizite im Bereich Mathematik oder Deutsch oder sonst wo nicht das Ende der Welt bedeuten würden. Alles kann nachgeholt werden, und alle Schülerinnen und Schüler in Europa haben genau das gleiche Problem. Jetzt rudere ich zurück, aber nicht wegen Mathematik oder Deutsch, sondern weil es unseren Kindern und Jugendlichen ganz schlecht geht. Sie driften in Depressionen, Essstörungen oder gefährliche Aggressionen ab. Sie wirken verloren. Sie brauchen dringend Hilfe. An der Schule gibt es eine Psychagogin und eine Schulsozialarbeiterin, die keine Kapazitäten mehr haben.“ (Artikel siehe hier: Lehrerin: „Zu all dem seelischen Leid gesellt sich noch der Leistungsdruck“)

Für die Bildungsbürokratie galt im heurigen Schuljahr jedoch die Devise: „Zurück zur Normalität in neuer Stärke: das gilt auch für die Schule“, wie es der Unterrichtsminister im Oktober 2022 ausdrückte. Alle Sonderregeln wie etwa die Verlängerung der Arbeitszeit für die Matura wurden abgeschafft, was von Schülervertrer:innen im März in einem offenen Brief heftig kritisiert wurde. Ihr Argument: Auch die heuer zur Matura antretenden Schüler:innen hätten in der Pandemie viel Unterichtsstoff verpasst. Im Unterrichstministerium stießen diese Forderungen jedoch auf kein Gehör.

 

Gutes Zeugnis für die Lehrkräfte – schlechtes für das Schulsystem

Zurück zur Studie. Ein interessantes Ergebnis brachte die Notenvergabe, zu der LernQuadrat die Schüler*innen im Rahmen der Umfrage aufgerufen hat. Das Beste an der Schule sind laut deren Bewertung die Lehrkräfte. Mit einer Durchschnittsnote von 2,4 schneiden diese besser ab als die Lerninhalte (2,6), die Unterrichtsform und das Notensystem (jeweils 2,7). Noch schlechter als schon vor sieben Jahren wird das Schulsystem insgesamt mit einer Durchschnittsnote von 3,2 eingestuft Generell wird die Schule von jüngeren Schüler*innen etwas besser beurteilt als von älteren. BHS-Schüler*innen benoten insgesamt die Lerninhalte etwas besser, AHS-Schüler*innen die Lehrkräfte.

 

Mehr Kompetenzerwerb statt Faktenwissen

„Wir dürfen uns mit diesen Ergebnissen nicht einfach abfinden. Schule kann und muss besser gelingen“, ist LernQuadrat-Sprecherin Schmidt überzeugt. Im permanenten Vorbereitungsmodus auf Prüfungen sei es schwierig, echtes Interesse oder gar Begeisterung für den Lernstoff zu wecken. Die Allmacht der Noten erzeuge zudem immensen Druck und mindere die Freude an Schule und Lernen gewaltig. „Statt überfrachtetem Faktenwissen sollte der Schwerpunkt noch mehr auf Kompetenzvermittlung gelegt werden, der praktische Nutzen des Gelernten verdeutlicht werden und den Lehrkräften freiere Entfaltung ermöglicht werden, statt sie mit Bürokratie zu überhäufen“, so Schmidt.

 

Alle Detailergebnisse der Umfrage finden Sie hier zum Downloaden: Charts SchülerInnenumfrage

Bilder: 2 x Sujet – Pixabay Gerd Altmann

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Bulimie-Lernen

Unter dem Begriff Bulimie-Lernen versteht man das kurzfristige Auswendiglernen von Fakten, Formeln, Sachverhalten, Wissen etc. für eine Prüfung, Klausur, Schularbeit oder einen Test, die man relativ kurze Zeit danach wieder vergisst und dadurch mangels Übung und tiefgreifenderen Verständnis meist nicht auf ähnliche Probleme anwenden kann.

Mehr dazu hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Bulimielernen