Enuresis nocturna lautet der medizinische Fachausdruck für ein an sich harmloses Leiden, das jedoch bei den Betroffenen sowie deren Eltern erheblichen Psychostress auslösen kann. Besser bekannt unter dem Begriff Bettnässen, stellt dieses Problem allen Aufklärungskampagnen zum Trotz noch immer einen wahren Klassiker unter den Tabuthemen dar.
Kein Wunder, schließlich ist heute noch die weitaus überwiegende Mehrheit der Eltern der Meinung, dass psychische Gründe für die nächtlichen Nassträume ihrer Kids verantwortlich sind. Und wer outet sich in diesem Zusammenhang schon gerne offen und ausführlich als Erziehungsversager? Also wird das Problem lieber totgeschwiegen, was für die betroffenen Kinder oft eine enorme psychische Belastung darstellt, wie Elternbefragungen beweisen.
So sind bettnässende Kinder und Jugendliche gezwungen ihr Sozialverhalten zu ändern. Ein Nachmittagsschläfchen im Kindergarten, Übernachtungen bei Freunden oder die Teilnahme an einem Schulschikurs sind praktisch ausgeschlossen, will man sich nicht zum Gespött machen. Dadurch in eine Außenseiterposition gedrängt, kann das für das betroffene Kind zu nachhaltigen psychischen Veränderungen führen.
Bettnässen ist kein Einzelschicksal
Nach Konzentrations-, Haltungs- und Schlafproblemen nimmt es bereits den vierten Platz in der gesundheitlichen Problem-Hitliste der Fünf- bis Sechzehnjährigen ein. Kein Wunder, schließlich nässen noch 20% der Fünf- und rund 10% der Zehnjährigen regelmäßig nachts ein. Wann diese Situation zum Problem wird, hängt von der Wahrnehmung der Betroffenen ab. OA Dr. Riccabona: “Bei rund 70% der bettnässenden Kinder konnten wir eine zu hohe Harnproduktion in der Nacht feststellen.” Denn beim Säugling und Kleinkind produzieren die Nieren kontinuierlich über 24 Stunden hinweg Harn. Mit zunehmendem Älterwerden jedoch wird in der Nacht weniger, dafür aber konzentrierter Harn ausgeschieden. Verantwortlich dafür ist das Hormon Adiuretin, dessen Ausschüttung einem Tag/Nacht-Rhythmus unterliegt, der sich erst mit den Jahren entwickelt. Ist dieser Reifungsprozess jedoch verzögert, kann Bettnässen die unangenehme Folge sein.
Zur Behandlung dieser sogenannten monosymptomatischen Enuresis nocturna, kurz MEN, steht mit der Wirksubstanz Desmopressin heute ein erfolgversprechendes Medikament zur Verfügung. Es handelt sich dabei um einen Hormonersatzstoff, der direkt auf die Nieren wirkt und dort zu einer Konzentration des Harns führt. Weil die Blase weniger voll ist, halten die Betroffenen ohne Blasenentleerung bis in den Morgen durch. Desmopressin muss vom Kind am Abend in Form eines Nasensprays oder von Tabletten eingenommen werden. “70% der so behandelten Kinder sind nach neun Monaten Therapie sauber”, kann Univ. Prof. Dr. Waldhauser von der Uniklinik Wien eine durchaus passable Erfolgsbilanz vorweisen. “Ein halbes Jahr nach Absetzen des Medikaments berichten allerdings 20% bis 25% der Kinder wieder von Rückfällen.”
Eine andere Methode, die bei MEN-Patienten mit ähnlichen Erfolgsaussichten wie Desmopressin eingesetzt werden kann, ist die Verhaltenstherapie, besser bekannt unter dem Begriff Klingelhose oder –matte.
Spezielle Sensoren, die in der Hose oder der Bettunterlage angebracht sind, reagieren auf Feuchtigkeit mit einem Klingelton.
Dadurch wacht das Kind bei den ersten Tropfen auf und kann das restliche Geschäft auf der Toilette erledigen. Allmählich lernt es dadurch die Signale der Blase rechtzeitig zu deuten und entsprechend darauf zu reagieren. Nach durchschnittlich siebzehn Tagen, weiß Prof. Waldhauser aus langjähriger Erfahrung, sind die betroffenen Kids auf diese Art ihr lästiges Leiden los. Die Klingelhose kann allerdings nur verwendet werden, wenn Kinder und Eltern ausführlich über den Trainingscharakter dieser Therapie aufgeklärt werden und beide Parteien mit der konsequenten Durchführung einverstanden sind.
Erst ein Durchcheck
Bevor der Kinderarzt allerdings zum Rezeptblock greift, müssen erst einige einfache Untersuchungen durchgeführt werden um festzustellen, ob nicht eine Erkrankung die Ursache der nächtlichen Überschwemmungen ist. Als erstes wird der Urin des Kindes auf einen möglichen Harnwegsinfekt überprüft, der mit Antibiotika recht einfach behandelt werden kann. Ein sogenanntes Miktionsprotokoll gibt Aufschluss über die Harnmenge die das Kind speziell in der Nacht ausscheidet.
Dazu müssen die Eltern zwei Tage und Nächte genau über die Menge der Flüssigkeitszufuhr sowie der Urinausscheidung ihres Sprösslings Buch führen. Das stellt zwar für alle Beteiligten eine ziemlich mühsame Prozedur dar, zumal das Kind zweimal pro Nacht zwecks Blasenentleerung geweckt werden muss, eine seriöse Diagnose ist sonst aber nicht möglich. Eine einfache Ultraschalluntersuchung schafft Klarheit über Größe, Beschaffenheit und Funktion der Blase. Sollten hier Auffälligkeiten auftreten, wird der behandelnde Arzt noch ein Röntgen empfehlen.
Erbliche Komponente
Was allerdings kaum vorkommt, da organische Erkrankungen nur in 5% der Fälle die Ursache für nächtliches Einnässen sind. Vielmehr weist Bettnässen eine starke erbliche Komponente auf: Bei Dreiviertel aller Betroffenen findet man einen direkten Verwandten, der unter dem gleichen Problem gelitten hat. Auf Grund der allgemein etwas langsameren Entwicklung sind Buben auch häufiger betroffen als Mädchen.
Ganz anders verhält es sich mit der sogenannten sekundären Enuresis. Das heißt, Kinder und Jugendliche, die schon mehr als sechs Monate durchgehend trocken waren, beginnen plötzlich wieder einzunässen. Wahre Klassiker unter den Auslösern sind hier schwerwiegende Veränderungen im Leben dieser Kids: also die Geburt eines Geschwisterchens, Scheidung der Eltern, Schuleintritt oder –wechsel. Aber nicht immer sind die Ursachen so offensichtlich. Manchmal müssen Eltern hier schon detektivisches Gespür zeigen, um die seelischen Probleme zu ergründen, die ihren Nachwuchs so belasten.
Aktives Zuhören
Am besten gelingt das durch “aktives Zuhören”, weiß Frau Mag. Thalwitzer, Zentrumsleiterin beim NÖ Hilfswerk in Mödling. Bei dieser Art von Gesprächsführung bleibt das Gesagte vorerst weitgehend unkommentiert, das heißt, die Eltern ermahnen nicht, geben keine Ratschläge, sondern lassen das Kind einfach erzählen und hören aufmerksam zu. Auf diese Weise bringt man laut Frau Mag. Thalwitzer auch introvertierte Kinder zum Sprudeln. Kommt man selbst trotzdem nicht weiter, ist es sinnvoll professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dabei sollte man den Besuch beim Kinderpsychologen nicht dramatisieren, sondern ihn, im Gegenteil, positiv darstellen.
“Als Erziehungsversager müssen sich die Eltern von einem sekundär bettnässenden Kindes auf keinen Fall fühlen”, kann Frau Mag. Thalwitzer beruhigen. “Es gibt so gut wie kein Kind, das in seiner Entwicklung nicht einmal mit Verhaltensaufälligkeiten auf Veränderungen oder Schwierigkeiten reagiert.” Und solch ein Wunderkind wäre dadurch erst recht wieder auffällig.
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