„Ich bin am Wochenende immer total zu. Ich brauche das, sonst packe ich es nicht. Ein paar Mal habe ich schon Glück gehabt, wenn ich bewusstlos war nach dem Kampfsaufen. Die Leute im Spital kennen mich aber schon und sind urnett.“
Laut heulend und mit tränenverschmiertem Gesicht kommt Ihr Kind am Spielplatz zu Ihnen gelaufen. Es hat sich das Knie aufgeschlagen und blutet. Was tun Sie? Weichen Sie aus oder stellen Sie sich der Situation? Schimpfen Sie über die zerrissene Hose und seine Ungeschicklichkeit, sagen Sie ihm, dass es ruhig sein soll? Oder nehmen Sie es in den Arm und zeigen, dass Sie seinen Schmerz verstehen, trösten Sie es und kleben dann ein buntes Pflaster auf die Wunde? Unangenehmen Stimmungen und Problemen versuchen wir Eltern im Alltag gerne auszuweichen. Wir tun das, weil mir manchmal einfach nicht die Zeit und Energie haben, uns sofort diesem Problem zu stellen. „Das beginnt schon im Babyalter“ erklärt Herbert Aschauer, Sozialarbeiter und Geschäftsführer des tender-Vereines für Jugendarbeit. „Das Flascherl wird nicht als Durstlöscher eingesetzt, sondern als Beruhigungsmittel. Ein Zuckerl als Trostpflaster. Fernsehen, wenn das Kind unrund ist. Wir zeigen dem Kind, wie es ausweichen kann. Wir leben es oft selbst vor. Greifen zum Kaffee, um den Tag zu meistern. Nehmen Aufputschmittel, um den hohen Anforderungen gerecht zu werden. Essen, weil wir in frustrierter Stimmung sind.“
Ausweichen statt Problemlösung
Im Leben unserer Kinder gibt es Situationen und Abschnitte, wo die Gefahr eines Ausweichens besonders groß ist: der Eintritt in den Kindergarten, Schulbeginn, Pubertät, Probleme oder Angst in der Schule, Langeweile, Liebeskummer, Scheidung der Eltern etc. Gefährlich wird es, wenn Jugendliche, die als Kind Ausweichen als Problembewältigung praktiziert haben, diese Taktik weiter anwenden. Eine Droge, die Ängste und Hemmungen abbaut und vorerst Hochstimmung erzeugt, bietet sich an: Alkohol – einfach zu bekommen und in Österreich gesellschaftsfähig. Es ist verlockend für Jugendliche, Alkohol zu trinken, wenn sie auf eine Party gehen. Sie fühlen sich locker, gelöst und selbstbewusst. Alles scheint möglich und erreichbar … der bewusste Einsatz einer Droge, damit es einem besser geht. Der erste Schritt in Richtung Sucht ist getan.
Der Weg in die Alkoholsucht
Süchtig wird man nicht von heute auf morgen. Der Prozess vollzieht sich in mehreren Stufen.
- Stufe 1: Strikte Antialkoholiker meiden das Genussmittel. „Ich möchte nüchtern sein und mein Bewusstsein nicht von Alkohol beeinflussen lassen.“ Dieser Zustand ist geprägt von Strenge, Kontrolle, Sicherheit, Selbstgenügsamkeit, Vernunft.
- Stufe 2: Alkohol ist gesellschaftsfähig. Jemand, der keinen oder wenig Alkohol trinkt, bekommt in Österreich leicht den Stempel, fad zu sein. Jugendliche sehen, wie ihre Eltern trinken. Am Anfang steht der Genuss. Es beginnt mit einem Glas guten Weines, den man sich als krönenden Abschluss des Tages gönnt. Der Schritt vom Genuss zum Missbrauch ist jedoch ein sehr kleiner. „Ich trinke ab und zu ein Glas zum Essen oder wenn ich in Gesellschaft bin; es gehört einfach dazu. Für mich sind der Geschmack, der Geruch, der ganz bewusste Genuss beim Trinken sehr wichtig. Die Wirkung ist eher sekundär.“ Der Antrieb zu trinken resultiert aus Genuss, Gewohnheit, Konsum und bewusstem Ritual.
- Stufe 3: Problematisch wird der Konsum, wenn die Frequenz und die Menge steigen, wenn Alkohol alleine getrunken und bewusst eingesetzt wird. „Wenn ich am Abend etwas trinke, geht es mir nachher besser. Ich kann mich gut entspannen und alles kommt mir wieder viel leichter vor.“
- Stufe 4: Trinken artet zum Wettkampf aus. Bei Jugendlichen, die gemeinsam Alkohol konsumieren, herrscht oft Gruppendruck. Es ist üblich, einen gan-zen Kübel zu servieren, aus dem gemeinsam und gleichzeitig mit einem Strohhalm getrunken wird. „Ich gehe beim Trinken gerne an die Grenzen. Was vertrage ich noch, wie lange kann ich die Wirkung im Griff haben, ab wann bin ich dann wirklich zu? Es ist ein spannendes Spiel.“ Diese Stufe des Alkoholkonsums ist geprägt vom Kick und dem Wunsch, Grenzen auszutesten und zu überschreiten.
- Stufe 5: Wenn das Wettkampftrinken regelmäßig betrieben wird und zum Komasaufen ausartet, ist der Schritt zur Sucht nicht mehr weit. „Ich bin am Wochenende immer total zu. Ich brauche das, sonst packe ich es nicht. Ein paar Mal habe ich schon Glück gehabt, wenn ich bewusstlos war nach dem Kampfsaufen. Die Leute im Spital kennen mich aber schon und sind urnett.“ Diese Risikohaltung ist geprägt von Überdosierung, Kontrollverlust, Betäubung, Verdrängung, Selbstbestrafung und Selbstvernichtung. Vom Komasaufen in Gesellschaft, das sich momentan ja großer Beliebtheit erfreut, bis zur Abhängigkeit vom Alkohol ist es nur ein winziger Schritt. Von Sucht und körperlicher Abhängigkeit spricht man, wenn sich im Leben alles nur noch darum dreht: Wo und wann bekomme ich wieder Alkohol?
Die wirksamste Suchtvorbeugung
Der Umgang mit Sucht und Suchtprävention hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert. Setzte man früher auf Abschreckung durch möglichst abstoßende Beispiele und umfassende Aufklärung an den Schulen, so verfolgt man heute eine andere Taktik. Suchtvorbeugung beginnt bei den Neugeborenen. Persönlichkeitsstärkung heißt der Zauberweg, mit dem Sie Ihr Kind fit fürs Leben und alle seine Herausforderungen machen können, verrät Max Foissner, Leiter der Mobilen Jugendarbeit (MOJA) in Mödling. „Selbstbewusste, kleine Menschen heranziehen, die Gefühle und Bedürfnisse von sich und anderen wahrnehmen und akzeptieren, die gesunde Grenzen erleben, die lernen mit Misserfolgen und Konflikten umzugehen. Menschen, die Genussmittel mit Maß und Ziel konsumieren und nicht dazu verwenden, um vor sich und der Wirklichkeit zu fliehen.“
Auch Indianer kennen Schmerz
Zur Entwicklung einer starken Persönlichkeit gehört, Gefühle zeigen zu dürfen. Auch für Buben muss es in Ordnung sein, Angst zu haben oder Schmerz zu fühlen. Sätze wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ oder „Reiß dich zusammen“, wie wir selbst sie häufig von unseren Eltern gehört haben, führen dazu, dass Kinder von klein auf lernen, ihre negativen Gefühle zu unterdrücken. Wichtig ist, dass die Kids ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und ausdrücken können: Was macht mich so wütend? Was steht dahinter? Wie geht es mir wirklich? Bin ich wütend und traurig, weil Mama mir jetzt keinen zweiten Kaugummi gibt oder weil mein Freund in der Schule gemein zu mir war? Wir können unseren Kindern mit gutem Beispiel vorangehen und ihnen vorleben, dass auch wir unsere Bedürfnisse haben. Dass wir zum Beispiel einfach mal eine Viertelstunde Ruhe brauchen.
Grenzen setzen kostet Kraft
Ein ständig neuer Kampf für uns Eltern ist das Setzen von Grenzen. So eng sie früher für die Generation der autoritär erzogenen Kinder gesteckt waren, so weit sind sie oft heute. Eltern fällt es vielfach schwer, nein zu sagen – weil es eben sehr bequem ist, etwa das Kind vor den Fernseher zu setzen, wenn man selbst müde von der Arbeit kommt. Grenzen zu setzen und dabei auch konsequent zu sein, kostet viel innere Kraft. Gleichzeitig müssen wir lernen, Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Kinder zu haben und sie auch loszulassen. Kinder brauchen Grenzen, innerhalb derer sie sich bewegen können; die so weit gesteckt sind, dass sie Erfahrun-gen sammeln und auch Misserfolge erleben können. Ein überbehütetes Kind hat wenig Möglichkeiten dazu. Und dann kann auch passieren, dass es plötzlich ausschert und sich wirklich in Gefahr begibt … nachdem es jahrelang brav mitgespielt hat.
Zu viel Druck erzeugt Widerstand
Was eine Kinderseele gar nicht leiden kann, ist zu viel Druck: Perfektionsdruck, weil die Ansprüche so hoch gesteckt sind – „Alle deine Freunde können schon schwimmen, du musst es auch endlich lernen!“ Und Zeitdruck durch Berufstätigkeit der Eltern einerseits, durch übermäßige außerschulische Betätigungen in der Freizeit andererseits. Das kann dazu führen, dass ein Kind mit Rückzug, Trotz und Verweigerung reagiert. Und vor der Realität flüchtet.
Ich mag dich, wie du bist
Das Allerwichtigste, was ein Elternteil seinem Kind fürs Leben mitgeben kann, ist Liebe. Das Kind muss spüren, dass man es mag, auch wenn es Fehler macht, auch wenn es vielleicht nicht so geschickt, hübsch, selbstbewusst, wortgewandt oder erfolgreich ist wie andere. Es braucht eine Liebe, für die es nichts tun muss. Eine Liebe, die es sich nicht erst zu verdienen hat. „Ich liebe dich, weil du da bist. Ich liebe dich, so wie du bist.“ Die Art der Liebe, die wir als Kind erfahren, beeinflusst unser Selbstwertgefühl für das ganze Leben sehr stark. Werden wir als Kind akzeptiert, so wie wir sind, fällt es uns später leichter, uns selbst mit all unseren Stärken und Schwächen anzunehmen.
Genuss gehört zum Leben.
Ein weiterer wichtiger Punkt für den maßvollen Umgang mit legalen Drogen wie Alkohol oder Nikotin ist die Genussfähigkeit. Wenn ein Kind erlebt hat, etwas mit allen Sinnen zu genießen, fällt es ihm später leichter, mit den Verführungen der gesellschaftlich anerkannten Genussmittel umzugehen. Von einem Jugendlichen zu verlangen, dass er gar keinen Alkohol trinkt, ist unrealistisch, aber der Umgang damit will gelernt sein. „Wer sich in jeden Genuss stürzt, ohne sich zu entsagen, wird haltlos. Wer den Genuss meidet, wird stumpfsinnig“, erkannte schließlich schon Aristoteles.
Infos:
https://suchtvorbeugung.ktn.gv.at/
www.vereintender.at
Kinder und Jugendanwaltschaft NÖ:
www.kija-noe.at
Beratungsstelle für Alkoholprobleme:
https://www.dialogwoche-alkohol.at/handeln/beratungsstellen/
Mag. Edda Schach-Unterberger
Foto: pixabay_rebcenter_moscow
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