Familienleben: Warum es abends so oft kracht …

Am Abend beginnt die Rushhour – nicht nur auf den Hauptverkehrsrouten, sondern auch in vielen Familien. Wie Sie das ganz normale Abendchaos in den Griff bekommen, bevor es eskaliert.

 

Baby Sarah schreit, weil es hungrig ist und weil es die ungeteilte Aufmerksamkeit von Mama Sabine möchte. Und zwar sofort! Mama Sabine ist aber gerade damit beschäftigt, mit dem siebenjährigen Lukas die Wörter für die Lernzielkontrolle am nächsten Tag zu üben und nebenbei mit Lara (4) Memory zu spielen. Da bleibt keine Zeit, auch noch das Baby zu stillen; es muss kurz warten.

In diese Familienidylle platzt Harald, der Ehemann und Vater, hinein und fragt: „Was ist denn hier los? Man hört Sarahs Geschrei bis zur Straßenecke. Warum stillst du sie nicht?“ In Sabine keimt Wut. Statt wie früher modisch gekleidet morgens aus dem Haus zu gehen und den Tag als Informatikerin in einem großen Konzern zu verbringen, hat sie sich seit der Früh um Kinder und Haushaltskram gekümmert. Und nun wagt es Harald, ihre Fähigkeit als Mutter in Frage zu stellen … denn genauso empfindet sie seine leicht dahingesagten Worte in diesem Moment. Dicke Luft ist angesagt.

Als Harald sich dann noch suchend in der Küche umsieht und den Kühlschrank aufund zumacht, platzt Sabine endgültig der Kragen. Böse Worte fallen, Anschuldigungen werden einander vorgeworfen. Die größeren Kinder ziehen die Köpfe ein, Baby Sarah schreit und schreit. Lukas kickt ärgerlich seine Schultasche in die Ecke und erhält dafür eine Rüge des Vaters. Nun beginnt auch noch Lara zu heulen. Schweigend wird das Abendessen verzehrt, währenddessen versucht Sabine Sarah zu stillen und in den Schlaf zu wiegen. Aber das Baby schreit und schreit …

Schräge Stunden

Die nicht nur Familie Grabner regelmäßig erlebt. Sie treten zwangsläufig in vielen Familien auf: Zu dieser Tageszeit befindet sich die Leistungskurve bei den meisten Menschen auf einem sehr niedrigen Niveau, was auch bedeutet, dass die Leidensbereitschaft sehr gering ist!

Zu viele Eindrücke sind tagsüber auf die einzelnen Familienmitglieder eingeströmt – schöne, aber auch weniger angenehme. Hinzu kommen die beginnende Müdigkeit, der Frust über nicht erledigte Aufgaben, der Hunger und besonders bei Kindern die Angst vor der Dunkelheit und der Abschied von diesem speziellen Tag.  Dunkelheit und Abschied sind zwei Elemente des Lebens, die Kinder ganz besonders ablehnen. Alles sollte stets so bleiben, wie es ist: so schön, so hell, so lustig – unverändert eben.

Jeder Abend ist ein kleiner Abschied. Andere Abschiede im Leben werden groß gefeiert und zelebriert, hauptsächlich um sie leichter zu ertragen. Natürlich kann nicht jeden Abend ein Fest gefeiert werden, um die schwierige Zeit von 18 Uhr bis zum Schlafengehen der Kinder zu überstehen. Dennoch helfen gewisse Rituale, diese Stunden erträglicher zu machen.

Manche Eltern entwickeln sich zu richtigen Abendritualregisseuren

Sie haben einen genauen Plan für jeden Abend. Zunächst das gemeinsam zubereitete Abendessen. Jedem Familienmitglied kommt eine fest zugeordnete Aufgabe zu, so läuft die Vorbereitung relativ reibungslos ab: Ein Kind legt den Aufschnitt auf den Teller, das zweite Kind schneidet das Gemüse, das Jüngste deckt den Tisch, die Mutter kocht Tee und der Vater schneidet das Brot.

Danach kuscheln sich die Kinder ins Sofa und Papa liest eine Gute-Nacht-Geschichte. Währenddessen richtet Mama alles fürs Schlafengehen her. Die Kinder schlüpfen anschließend in ihre Pyjamas. Nette Abendritual-Requisiten helfen den kleinen Darstellern, den Ablauf erfolgreich zu bewältigen. Der kuschelige Snoopy-Pyjama oder die coole Mickey- Mouse-Zahnbürste machen das Abendprogramm noch interessanter. Und das Zähneputzen wird durch die bunte Sanduhr zur rituellen Handlung. Nach der Badezimmer-Szene darf sich jedes Kind über eine kurze Zeit mit Mama und/oder Papa alleine freuen.

Da wird gekuschelt und gelacht, aber auch so manches Erlebnis des zurückliegenden Tages besprochen. Worüber hat sich das Kind geärgert, über welche Ereignisse gefreut? War irgendeine Begebenheit besonders lustig oder lehrreich? Manche Eltern nennen diesen Abschluss des Abends „Tagesfilm“. Ein persönlicher Tagesrückblick hilft den Kindern, den vergangenen Tag zu verarbeiten und sich auf die Nacht vorzubereiten. Jeder Erwachsene weiß nur zu gut, dass unverarbeitete Probleme, aber auch Ereignisse den Schlaf rauben können. Über Geschehenes zu reden ist oft schon die halbe Bewältigung … eine Erfahrung, die sehr kleine Kinder schon machen können.

Oft lieben Kinder ein bestimmtes Schlaflied oder ein kurzes Abendgebet. Weniger musikalische Eltern können auch eine Lieder-CD auflegen, die die Kleinen sanft auf den Schlaf einstimmt. Viele Kinder besitzen ein Kuscheltier, das sie Abend für Abend ins Bett begleitet. Oder auch irgendein anderes Lieblingsstück: Einer meiner Söhne etwa schlief über einen längeren Zeitraum nur mit seinem Fußball ein … gewöhnungsbedürftig für die Eltern, aber manchmal suchen Kinder sich eben ihre eigenen Requisiten aus. Und das ist völlig in Ordnung. Kinder sollten in die Abendritualplanung miteinbezogen werden.

Und auch von Zeit zu Zeit in deren Änderung. Wenn der 13-Jährige von der Mutter zum Zähneputzen begleitet wird und sich mit Entchenhandtüchern abtrocknen muss, steht das als dringender Hinweis dafür, dass die Einberufung einer Familiensitzung fällig ist!

Rituale helfen das Abendchaos ohne größere Konflikte zu überstehen

Und das vor allem in Familien mit jüngeren Kindern. Eltern sollten aber nie vergessen, dass Rituale Hilfsmittel sind und nicht zwanghaft eingehalten werden müssen. Es gibt auch Ausnahmen. Wenn Eltern abends ausgehen oder ein Elternteil beruflich unterwegs ist, dann finden eben andere Einschlafrituale statt. Kinder erleben so auch beim Einschlafen „normale Tage” und „Feiertage”.

Wichtig ist darüber hinaus, dass die Eltern sich auf diese Zeit einstimmen und – soweit das möglich ist – einander helfen, diese Stunden zu überstehen. Anna (33), Mutter eines einjährigen Zwillingspärchens und einer sechsjährigen Tochter, ist abends meist so geschafft, dass sie schon sehnsüchtig auf die Heimkehr ihres Lebensgefährten wartet. Sobald Hannes die Türe aufsperrt, freut sie sich auf ihren Teil des Abendrituals: Während der Vater ihrer Kinder als Ausgleich zu seinem stressigen Arbeitstag ausgelassen mit seinem Nachwuchs spielt, widmet sich Anna ihren „Wellness-30-Minuten“.

Sie schlüpft ins Badezimmer, verriegelt die Türe und genießt bei einer Dusche oder einem Schaumbad die kinderfreie Zeit. Sie dreht sanfte Musik auf und schüttelt allen Stress von sich. Manchmal liest Anna in der Badewanne ein Buch oder die Zeitung. An anderen Tagen wiederum macht sie Fitnessübungen – ganz ihrer Stimmung entsprechend. Was so wunderbar klingt, hat sich Anna in tränenreicher Diskussion mit Hannes bitter erkämpft. Schon bald war auch ihm klar, dass er seiner Partnerin in dieser anstrengenden Lebensphase eine halbe Stunde täglich schenken muss, um langfristig eine frohe, ausgeglichene Frau an seiner Seite zu haben. Manchmal hilft Anna alleine der Gedanke an die kurze Ruhepause, den Tag mit den quengelnden oder zahnenden Babys zu überstehen.

Gute Abendritualregisseure planen also ihr eigenes Wohlbefinden mitein. Anna weiß, wie wichtig ihre abendlichen 30 Minuten für sie und ihre Familie geworden sind. Wenn Hannes um diese Zeit nicht zu Hause sein kann, bittet sie daher die Oma, eine Freundin, eine Nachbarin oder eine Babysitterin für eine Stunde zu sich. Ausgeglichene Eltern sind die Grundvoraussetzung für einen ruhigen Abend. Zumindest bis es Teenager in der Familie gibt, dann schlägt das Abendchaos sein nächstes Kapitel auf – allerdings nur aus Sicht der Eltern, hat doch ein 15-Jähriger kein Problem damit, sich die Zeit bis Mitternacht mit Fernsehen, Lesen oder iPod-Hören um die Ohren zu schlagen.

Chaos gibt es für Junior erst am nächsten Morgen, wenn der Wecker läutet. Das ist aber wieder ein ganz anderes Thema für Eltern-Regisseure. Eine neue Herausforderung in dem Film, der Leben heißt …

 

Dipl.Ing. Roswitha Wurm

Bild: pixabay_Gerhard

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