Fremdeln

Lachen und weinen

Lachen und Weinen liegen bekanntlich nah beisammen. Deshalb ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn von heute auf morgen aus den lachenden Kinderaugen Tränen herauskullern.

Ab dem 8. Lebensmonat, manchmal auch etwas früher, beginnen die Kleinen die große Welt aus einem anderen Blickwinkel zu erkunden. Krabbelnd und robbend begibt sich der neugierige Stammhalter auf Entdeckungsreise und trifft in seiner Umgebung auf bisher unbekannte Neuheiten. Ein gesundes Misstrauen schadet deshalb nicht. Von nun an wird nicht mehr willkürlich jedes Gesicht herzzerreißend angelächelt – übrigens eine Eigenschaft, die dem Sprössling angeboren ist – sondern fein säuberlich aussortiert.

Das Kind lernt bekannte und unbekannte Gesichter voneinander zu unterscheiden. Die Mutter, als zentraler Orientierungspunkt, wird in dieser Phase für das Kind unerlässlich. Von diesem Zeitpunkt an sind nicht mehr nur Mamas Geruch, Geschmack und Stimme für den Kleinen von Bedeutung, sondern das Aussehen der Mutter spielt auch eine wesentliche Rolle.

Entspricht die Wahrnehmung nicht den Erwartungen des Kindes, an die es sich gewöhnt hat, empfindet das Baby eine explizite Angst vor Fremden. Ein Phänomen, das die Kleinen nur beim Anblick der “Großen” zeigen. Anderen Kinder gegenüber verhält sich das Baby unverändert. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem anderen Spross dürfte die Erklärung dafür sein – so vermutet zumindest die Wissenschaft.

Eltern haben Hochsaison

Mama und Papa stehen während dieser Phase hoch im Kurs. “Kurzbesucher” hingegen kommen nicht selten mit einem weinenden Kinderauge davon. Denn von jetzt an nimmt der kleine Erdenbürger sein Gegenüber genau ins Visier und entscheidet selbst, wem er ein Grinsen schenkt. Das Zauberwort lautet: Sympathie. Aus psychologischer Sicht machen Babys dabei außerordentlich wichtige Lernprozesse durch.
Sie erkennen ihre Bezugspersonen und begreifen deren Bedeutung für ihr Leben. Für ein Kind gibt es daher nichts Besseres als die ständige Anwesenheit der vertrauten Personen. Und nichts Schlimmeres als deren Abwesenheit.

Ich bin ICH! Wer bist DU? Neben dem “Liebenlernen” beginnt ein Baby unter anderem auch, sein “Ich” zu entdecken und sich von anderen abzugrenzen. Jede Abwehrreaktion des Kindes bedeutet nichts anderes, als: “Hier bin ich. Du bist mir fremd – ich muß dich erst ein wenig kennenlernen.” Dieser unendlich wichtige Prozess im Leben der Kleinen verbirgt tiefe Angstgefühle in sich.

Während dieser “Abgrenzungs”- und “Liebenlern-Phase” verspüren die Kinder, sobald die geliebte Bezugsperson aus ihrem Blickwinkel verschwindet, ein Gefühl unendlicher Einsamkeit. Psychologen nennen dieses schmerzhafte Gefühl Verlassenheits- oder Trennungsangst. Das Auftreten solcher Ängste ist ein Zeichen der starken emotionalen Bindung, die das Kind zu seiner Bezugsperson hergestellt hat. Selbst Fünf- oder Sechsjährige können noch mit Verlassenheits- oder Trennungsangst auf die Abwesenheit der Eltern reagieren.

Abstand halten

Kinder brauchen, ebenso wie die Erwachsenen, genügend Anpassungszeit. Ein “Begrüßungs-Schmatz” von Tante Mizzi, die nur gelegentlich zu Besuch kommt, bringt daher den kleinen Berti während dieser schwierigen Zeit meist nur zum Weinen. Und damit nicht genug.
Bevor “klein” Berti weiß, wie ihm geschieht, landet er ungewollt an Tantes Busen. Das Heulkonzert beginnt. Der “Sicherheitsabstand” wurde durchbrochen. Das beste Mittel ein Kind für sich zu gewinnen, heißt Distanz zu halten und spielend dem Kleinen entgegenzukommen.

Krabbelt der Sprößling zu der fremden Person hin und lässt sich vielleicht sogar streicheln, hat die Neugierde gesiegt. Der “Fremdling” darf sich glücklich schätzen in den “Kinderclan” aufgenommen worden zu sein. Und eines ist ihm garantiert: Jedes Lächeln kommt ab nun von Herzen.

Interview

Interview mit Univ. Prof. Dr. Brigitte Rollett – Entwicklungspsychologin

Was ist Fremdeln?

Fremdeln bezeichnet die angeborene Neigung von Kleinkindern, sich fremden Leuten nicht zu nähern. Dabei handelt es sich um einen wichtigen Schutzmechanismus.

Wann beginnen Kinder zu fremdeln?

Sobald Kinder krabbeln können und damit die Gefahr besteht, dass sie sich von ihrer Mutter entfernen könnten. Ungefähr zur selben Zeit, nämlich mit etwa 7 –8 Monaten, haben sie außerdem gelernt, vertraute Personen von Fremden zu unterscheiden. Vor dieser Zeit lächelt ein Baby jeden Menschen an, der sich freundlich lachend mit ihm beschäftigt. So kann es passieren, dass die liebe Oma zur ihrer Enttäuschung erleben muss, dass sich das Enkerl vor ihr fürchtet, wenn sie es längere Zeit nicht besucht hat.

Wie lange fremdeln Kinder?

Die ausgeprägte “8-Monat-Angst” verschwindet nach einiger Zeit. Was die Kinder behalten sollen, ist eine gesunde Zurückhaltung Menschen gegenüber, die sie nicht kennen. Die erhöhte Trennungsangst von der Mutter oder anderen geliebten Familienangehörigen bleibt aber noch bestehen, bis das Kind etwa drei Jahre alt ist.

Was, wenn Kinder nicht fremdeln?

Meistens haben diese Kinder zu viele Betreuungspersonen. Das kann bei Kindern in Heimen der Fall sein, die keine Familiengruppen führen. Diese Kinder gehen wahllos jeder fremden Person zu. Im späteren Leben haben diese Kinder dann oft Probleme, sichere und dauerhafte Beziehungen aufzunehmen.

Woran bemerkt man, dass ein Kind fremdelt?

Auf dem Höhepunkt der “Fremdenangst” schreien Kinder und wenden sich ab, wenn sich eine ihnen unbekannte Person nähert. Mildere Reaktionen sind ein misstrauischer Gesichtsausdruck und ein Zurückweichen. Hält die Mutter das Kind auf dem Arm, kuschelt es sich mit dem Gesicht an die Mutter.

Warum fremdeln Kinder bei Kindern nicht?

In der Vorzeit der Menschheitsentwicklung bedeuten Kinder keine so große Ge-
fahr wie fremde Erwachsene. Das Gesicht eines Kindes löst daher keine “Fremdenangst” aus, während ebenso kleine Erwachsene zu Angstreaktionen Anlass geben.

Wie gewöhnt man Kinder in dieser Phase an den Babysitter?

Am einfachsten ist es natürlich, wenn man alle Personen, die sich um das Kind kümmern sollen, möglichst früh mit dem Baby bekannt macht, das heißt, vor dem 7. Monat, da dann die “Fremdenangst” noch nicht auftritt. Später muss man sich viel Zeit nehmen um das Kind langsam an die neue Person zu gewöhnen.

Foto: CandyBox Images/Shutterstock.com




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