Kinder, Sex und Tiere ziehen
In der Werbung, auf dem Titelblatt, im Fernsehen. Diese Faustregel ist so alt wie die Mediengeschichte. Anders als noch vor fünf Jahren, gehören Kinder heute jedoch zu den Attraktionen des Hauptabendprogramms. Reality-Soaps wie „Tausche Familie“, „Die Supernannys“, „Die Lugners“ oder zuletzt die ATV-Vorabendsendung „Kochen mit Kids“ setzen Kinder jeden Alters in Szene. Anders als bei den Klassikern „Am Dam Des“ und „Eins, Zwei oder Drei“ machen die Kinder hier nicht Fernsehen für Kinder. Sie spielen im Programm der Erwachsenen. Das sorgt für kritische Stimmen bei Eltern und Fachleuten.
Was Kinder wollen
Gerade bei den Reality-Formaten, deren Kameras manchmal tief in die Intimsphäre von Familien eindringen, stellt sich die Frage, wie freiwillig Kinder bei diesem Spiel mitmachen und ob für sie aus dem Spiel nicht auch Ernst werden kann. Christoph Brunmayr, Pressesprecher von ATV, betont im Gespräch mit FRATZ & CO, dass der Fernsehsender kein Kind vor die Kamera zerre: „Wir hatten bei ,Tausche Familie’ genug Familien, wo einzelne Kinder nicht mitmachen wollten. Diese Kinder wurden dann nicht gefilmt. Zudem war immer gewährleistet, dass ein Kind ausreichend durch einen Elternteil betreut wird. Die Eltern bestimmen, wer und was gefilmt wird.“ So auch die Eltern von Jacqueline Lugner, die laut Brunmayer einzig und allein auf Wunsch von Richard und Christina Lugner bei ihrer familieneigenen Reality-Show mit dabei ist.
Missbrauch im TV?
Damit liegt die Verantwortung einmal mehr bei den Eltern. Ob diese sie auch wirklich wahrnehmen, steht auf einem anderen Blatt. „Ich würde nicht sagen, dass das Lugner-Mädel der Ausbund an Unbefangenheit ist“, kommentiert Professor Christian Vielhaber. Der Obmann des Österreichischen Kinderschutzbundes hält von den neuen TV-Formaten mit Kindern wenig: „Für mich sind das Ereignisse, die die Psyche des Kindes nicht berücksichtigen. Ein Kind wird aus der natürlichen Umgebung genommen und in eine rein funktionale Umgebung gegeben. Da kann sich das Kind nicht wohlfühlen. “ Die Ergo- und Psychotherapeutin Herta Brinskele bringt es im Interview mit FRATZ & CO auf den Punkt: „Da geschieht Missbrauch. Das ist ein starkes Wort, das braucht es aber, um zu verstehen, worum es da geht. Missbrauch von den Machern, von den Eltern, aber auch von den Zuschauern, die sich in die Intimsphäre von jemandem hineinschummeln, der nicht Ja oder Nein sagen kann oder der das jemandem zuliebe macht.“
Echte Bedürfnisse
Zum Fernsehen Nein zu sagen ist für die meisten Kinder eine Unmöglichkeit. Zu groß ist die Anziehungskraft dieses Mediums, zu groß die Verlockung, einmal etwas ganz Besonderes zu sein. „Da wird der Narzissmus genährt, im Positiven wie im Negativen“, formuliert es Herta Brinskele. Wieder liegt also die Verantwortung bei den Eltern. Das Kind bloß zu fragen, ob es Lust hat, im Fernsehen aufzutreten, ist nicht genug. Die Elternmüssen ergründen, ob das TV-Abenteuerwirklich den Wünschen und Bedürfnissen ihres Kindes entspricht, ob das Kind auch die vollen Konsequenzen kennt und mit ihnen umgehen kann. Keine leichte Sache. Insbesondere dann, wenn einem die eigenen Wünsche und Bedürfnisse, der eigene Narzissmus in die Quere kommen: „ Es geht immer um vermutete Bedürfnisse von Kindern, die von Erwachsenen realisiert werden. Das kann gut gehen, es kann aber auch daneben gehen“, sagt Herta Brinskele
Schnelle Nanny-Truppe
Manchmal ist es aber nicht der eigene Hang zur Selbstdarstellung, sondern die reine Verzweiflung, die Familien ins Fernsehen bringt. Die „Supernannys“ der Fernsehweltwerden erst dann gerufen, wenn in Sachen Erziehung nichts mehr geht. Vor laufender Kamera greifen die Erziehungsberaterinnen ins Familiengeschehen ein und retten, was zu retten ist. Ein Konzept, dem auch die Psychotherapeutin durchaus etwas Positives abgewinnen kann: „Da ist jemand bereit, in ganz schwierige Konstellationen hineinzugehen und zu helfen. Ich habe großen Respekt vor den Familien, die ihre Probleme so offen gezeigt haben und auch ihre Überforderung zur Schau stellen“, sagt Herta Brinskele. Dennoch bleibt nach einigen Sendungen ein schaler Nachgeschmack. „Da kommt ein Zampano und zeigt, wie’s gemacht wird“, kritisiert Christian Vielhaber vom Kinderschutzbund die Erziehungssendungen. „Das läuft alles immer nach dem selben Schema ab.“ Die Dramaturgie der Fernsehsendung scheint tatsächlich oft wichtiger zu sein als die pädagogischen Maßnahmen. Opfer und Täter werden identifiziert, tauschen ihre Rollen, um sich zuletzt zu versöhnen. Ob es beim Happy End bleibt, wird der Fernsehzuschauer nie erfahren. Echte Familientherapie, die angesichts der Härte der gezeigten Fälle angebracht wäre, dauert etwas länger. Eines haben die „Supernannys“ jedoch geschafft: Sie haben eine Diskussion darüber losgetreten, wie es um das Thema Erziehung steht. „In unserer Gesellschaft ist es schwierig zu sagen, ich habe Erziehungsprobleme. Man geht davon aus, dass Erziehung von selber funktionieren müsste. Dabei ist Erziehung überhaupt nichts Selbstverständliches“, sagt Herta Brinskele, die in ihrer Praxis täglich mit dieser Tatsachekonfrontiert wird
Kind kocht
Doch glücklicherweise spielen sich im Fernsehen nicht nur Familiendramen ab. Auch für leichte Unterhaltung und Spaß ist gesorgt, zum Beispiel mit Sendungen wie „Kochen mit Kids“ im ATV-Vorabend. Hier bereiten zwei Volksschulkinder gemeinsam mit dem Haubenkoch Alain Weissgerber und Barbara Eselböck ein feines Menü zu. Dazwischen gibt es lehrreiche Beiträge der Redaktion über die Herkunft etwa von Ricotta und anderen Zutaten. Die Kinder wirken zwischenzeitlich etwas wie Staffage, aber dennoch: Das kann kindergerechtes Fernsehen sein, weil es den Interessen und Entwicklungsbedürfnissen der Kinder entgegenkommt. Herta Brinskele dazu: „In der Volksschulzeit haben Kinder ein großes Interesse an der Welt der Erwachsenen, am Beruf der Eltern, am Alltag. Da geht es um ein Probehandeln, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen. Das hat den Charakter des Spielerischen, des Lustvollen.“ Zudem bestätigt Christoph Brunmayr von ATV, dass sich während der gesamten Produktion eine ausgebildete Pädagogin um die Kinder kümmert, „damit es immer Spaß bleibt und nie Arbeit wird“.
Fernsehen statt erleben?
Klingt gut – und eher nach dem guten alten Am-Dam-Des-Feeling. Wenn vor der Kamera gemeinsam gekocht, gebastelt und gespielt wird, wird das den Bedürfnissen der Kinder vor der Kamera und der Familien vor dem Fernseher gerecht. Die einen erleben einen großartigen Tag, an dem sie etwas ganz Besonderes sind, ohne die Gefahr, bloßgestellt oder ausgenützt zu werden. Die anderen holen sich im Fernsehen Anregungen dafür, was Erwachsene und Kinder gemeinsam anstellen könnten. Das funktioniert aber nur unter einer Bedingung: Der Fernseher wird auch wieder abgeschaltet. Die Kochsendung darf das gemeinsame Kochen nicht ersetzen, so wie der Märchenfilm kein brauchbarer Ersatz für eine von Papa erzählte Gute-Nacht-Geschichte ist. Spielt sich das Familienleben nur noch im Fernsehprogramm ab, ist es dann auch kein Wunder, wenn die Kinder unbedingt ins Fernsehen wollen. Positiv formuliert: Erleben Kinder ihre Abenteuer, ihre Experimente und ihre Anerkennung im richtigen Leben, verliert das Medium Fernsehen einen großen Teil seiner Anziehungskraft. Womit wir wieder da wären, wo wir angefangen haben: bei der Verantwortung der Eltern.
Linktipps:
www.kinderschutz.at
www.atv.at
Foto: Elena Yakusheva/Shutterstock.com