Sollte man meinen …
Lisa beispielsweise kann Buchstaben und Wörter nicht leiden – weder in der Suppe noch auf Papier. Bücher versteckt sie im hintersten Winkel ihres Zimmers und Schule ist ohnehin kein Thema für sie. Viel lieber bastelt die aufgeweckte Achtjährige, auch Tiergeschichten begeistern sie. Allerdings nur dann, wenn sie nicht selber lesen muss! Lisa ist Legasthenikerin.
Und sie ist mit ihrem Problem nicht alleine: Studien zufolge befällt etwa jeden Zehnten beim Erlernen von Buchstaben und Zahlen Machtlosigkeit. Die Ursachen können mannigfaltig sein, eines jedoch haben alle Betroffenen gemeinsam: Sie leiden unter ihrem Unvermögen, Texte zu lesen und den Inhalt zu erfassen. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen „Legasthenie“ und „allgemeiner Leserechtschreibschwäche“.
Legasthenie
Legasthenie tritt in manchen Familien gehäuft auf. Gerd Schulte-Körne vom Universitätsklinikum Marburg hält Legasthenie für vererbbar. Über genetische Untersuchungen haben der Kinderund Jugendpsychiater und seine Mitarbeiter festgestellt, dass vermutlich Störungen in sechs genetischen Regionen eine Vorläuferfunktion bei der Leserechtschreibschwäche zukommt. Das allein ist aber nicht des Pudels Kern. Vielmehr handelt es sich vermutlich um ein Zusammenspiel von neurobiologischen und sozialen Faktoren. „Bei Kindern und Erwachsenen, die an Legasthenie leiden, sind die Wahrnehmung und Verarbeitung von Buchstaben und Wörtern gestört“, meint Schulte-Körne. „In einer Studie haben wir festgestellt, dass das Hinterhauptareal, in dem das Zusammenführen von Buchstaben zu Lauten stattfindet, bei Legasthenie-Patienten geringer aktiviert ist als bei Menschen, die keine Probleme beim Lesen und Schreiben haben.“ Betroffene haben einen im Normalbereich liegenden Intelligenzquotienten, plagen sich aber auffällig beim Erlernen von Lesen und Schreiben.
In der Regel treten bereits in den ersten Phasen des Leseunterrichts Probleme auf. D oder T? B oder P? Ähnlich klingende Buchstaben bereiten ebenso Mühe wie die Buchstaben- Laut-Beziehung. Die Kinder schreiben Wörter daher meist lauttreu – nicht aber den Rechtschreibregeln entsprechend. Legasthene Kinder hören oder sehen anders, sie verarbeiten Sinneseindrücke anders, ihre räumliche oder zeitliche Orientierung ist eine andere … kein Wunder, dass diese differenzierte Wahrnehmung es den Betroffenen schwer macht, lesen und schreiben zu lernen. Dazu kommt, dass ihre Aufmerksamkeit im Umgang mit Buchstaben und Zahlen stark vermindert ist. Auch Lisa kann sich im Deutschunterricht sehr schwer konzentrieren. Beim Malen bunter Bilder und beim Basteln toller Mitbringsel ist sie hingegen geschickter als viele ihrer Klassenkollegen!
Allgemeine Leserechtschreibschwäche
Philipp war in den ersten Schuljahren ein sehr guter Schüler. Dann starb sein Großvater, der ihm Vorbild und Freund zugleich war – dieser Schock hat Philipp verändert. Er zog sich mehr und mehr zurück, war lustlos, kapselte sich in seine Traumwelten ab – und Philipps Schulleistungen ließen deutlich nach. Allgemeine Leserechtschreibschwäche kann unter anderem durch plötzliche Schockerlebnisse, spät erkannte körperliche Erkrankungen, Trennung der Eltern, Übersiedlung und Schulwechsel, aber auch mangelnde Frühförderung hervorgerufen werden. Manchmal haben betroffene Kinder allerdings einfach die Rechtschreibregeln nicht ausreichend gelehrt bekommen.
Wenn Lernen zur Qual wird
So unterschiedlich die Gründe für den schulischen Misserfolg sind, eines haben Lisa und Philipp gemeinsam: Sie sind nicht nur enttäuscht und entmutigt, sondern haben vor allem jegliche Freude am Lernen verloren! „Netter Aufsatz, aber zu viele Fehler!“ oder „Übe mehr!“ – Kommentare wie diese frustrieren leserechtschreibschwache Kinder. „Ich lerne doch ohnehin viel mehr als alle anderen Kinder!“, klagt Lisa häufig, „und die bekommen dann die guten Noten!“ Lernschwache Kinder leisten viel mehr als „leicht Lernende“, haben aber kaum Erfolgserlebnisse und bekommen selten Lob und Aufmunterung vonseiten der Lehrer und Eltern. Ermutigung ist der beste Lern- und Lebensmotivator – dies sollte als Grundregel gelten.
Oder, wie es die Mutter eines lernschwachen Kindes treffend formuliert: „Es gibt drei wichtige Dinge, die ich für mein Kind tun kann: Erstens loben, zweitens loben und drittens loben!“ Einschränkung: Ermutigung und Lob alleine bringen keine Besserung der Situation, wenn die Ursachen für die Leserechtschreibschwäche woanders als in einer momentanen Lebensdepression liegen …
Gezielte Hilfestellung
„Sag deinen Namen und wo du wohnst“, vielleicht noch ein dreizeiliges Gedicht, das war’s: Noch bis in die 1970er-Jahre hinein besuchten „Spezialisten“ des Stadtschulrates die Grundschulen und prüften im Schnellverfahren, ob ein Kind Legastheniker war oder nicht. Wer nicht bestand, der landete in der Sonderschule. Diese Zeiten sind vorbei. Zum Glück! Heute werden Eltern meist selbst aufmerksam, wenn ihre Kinder auch nach einigen Schulmonaten Buchstaben verdrehen, Reihenfolgen verwechseln oder das Lesen nur sehr zögerlich vorangeht. Oft liefert auch die Klassenlehrerin den entscheidenden Hinweis. Spätestens dann empfiehlt es sich, einen Legastheniespezialisten oder Psychologen aufzusuchen und das Kind testen zu lassen. Eine seriöse Diagnose sollte auf Anamnesegespräch, standardisiertem Rechtschreibtest, Lesescreening, Wahrnehmungsund Aufmerksamkeitstest, in manchen Fällen auch Intelligenztest basieren.
Liegt eine allgemeine Leserechtschreibschwäche vor, kann diese durch gezielte Übungen meist rasch behoben werden. Wird allerdings Legasthenie diagnostiziert, braucht es die Kompetenz eines Legasthenietrainers oder Therapeuten, der die individuell schwachen Wahrnehmungsbereiche des Kindes mit abwechslungsreichen Übungen fördert. Zusätzlich bedürfen betroffene Kinder eines speziellen Aufmerksamkeits- und eines intensiven Rechtschreibtrainings. Das unter der Leitung von Gerd Schulte- Körne erarbeitete „Marburger Rechtschreibtrainingsprogramm“ empfiehlt sich hier besonders. Gerne und erfolgreich arbeiten legasthene Kinder auch mit Computertrainingsprogrammen wie „GUT 1“, „Lesefit“ oder „Lesen 2000“.
Zeitfaktor
Die meisten legasthenen Kinder brauchen mehr Zeit, um ihre Aufgaben zu erledigen – was im Schulalltag meist nicht berücksichtigt werden kann. Spezielle Konzentrationsübungen wie Bilderrätsel, Suchsel, Reaktionskarten- und Merkspiele trainieren das Gedächtnis und die Reaktion in spielerischer und Erfolg versprechender Art und Weise. Lisas Mutter hat diese Förderwege mit ihrer Tochter eingeschlagen. Das Mädchen besucht wöchentlich eine Legastheniebetreuerin und macht täglich 15 Minuten spezielle Aufgaben aus dem eigens für sie zusammengestellten Trainingsprogramm. Manchmal hat Lisa keine Lust zum Üben, dann stöhnt sie über die zusätzliche Mühe. Meist überwiegen aber die Freude und der Spaß am Lernen – besonders wenn sich kleinere Erfolge einstellen. Denn Lisa weiß nun: Sie ist nicht dumm, sie muss eben anders und mehr als andere Kinder üben. Und das Beste ist: Nach und nach reiht sich für Lisa Buchstabe an Buchstabe zu sinnvollen Wörtern. Es gibt also keine Buchstabensuppe mehr in ihrem Kopf, sondern nur mehr auf ihrem Teller!
Test: Ist mein Kind lese-/schreibschwach?
Typische Wahrnehmungsfehler bei Legasthenie
• Fehler in der Groß- u. Kleinschreibung
• Verwechslung von Buchstaben: d/b/g/, ei/ie, W/M, Z/N, u/n …
• Fehlende Fähigkeit, ähnlich klingende Laute voneinander zu unterscheiden (Wahrnehmungstrennschärfe): t/f, m/n, n/r, o/a, h/k, l/i …
• Dehnungs- und Schärfungsfehler
• Verdoppelungsfehler: m statt mm, s statt ss …
• „Vergessen“ von Buchstaben am Wortende oder in der Wortmitte: „nich“ statt „nicht“, „lafen“ statt „laufen“ …
• Hinzufügen von Buchstaben: „Ferieien“ statt „Ferien“ …
• Vertauschen von Buchstaben: „feruen“ statt „freuen“ …
• Anlaut- bzw. Auslautverwechslungen
• Vergessen von Lauten oder ganzen Wörtern
Wahrnehmungsfehler beim Lautlesen
• Das Kind ignoriert Satzzeichen, es liest trotz Sinnwidrigkeit die einzelnen Sätze „ineinander“.
• Das Kind liest auch Wörter „ineinander“, es ignoriert Wortgrenzen und bildet beim Lesen zusammengesetzte Wörter bzw. „Unsinnwörter”.
• Das Kind lässt beim Lesen Zeilen oder Abschnitte aus.
• Das Kind liest langsam, stockend und ohne einzelne Wörter zu betonen.
Links Erster Österreichischer Dachverband Legasthenie (EÖDL) www.legasthenie.at Österreichischer Bundesverband Legasthenie Institut für Förderpädagogik Buch- und Übungstipps Legasthenie Leitfaden für die Praxis Lesen 2000 plus Rechtschreibtrainer |
Dipl.Ing. Roswitha Wurm
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