Verstohlen blicke ich auf die Uhr und stelle mir die universelle Frage aller SchülerInnen: “Warum kann Schule nicht mehr Spaß machen?”
Mein brav trainiertes Über-Ich hat natürlich gleich die passende Antwort parat: “Durch die Schule muss man eben durch. Das Leben ist nicht immer lustig!” So ergebe ich mich eben meinem Schicksal und lerne den Fortpflanzungszyklus der Parasiten.
Auf der Suche nach Alternativen stieß die Pädagogin und Kindergärtnerin Petra Autherid auf die “Nichtdirektive Erziehung”, die einen völlig anderen Umgang mit Kindern ermöglicht.
Alternativen zu Regelschule und -kindergarten
Während meiner Ausbildung zur Kindergärtnerin fragte ich mich: “Warum sollen die Kinder eigentlich ausführen, was ich mir ausdenke, anstatt ihren eigenen Impulsen zu folgen?” Ich spürte damals immer wieder, dass weder ich noch die Kinder mit meinen perfekt vorbereiteten Aktivitäten richtig glücklich wurden.
Es widerstrebte mir, die Kinder mit diversen Tricks oder mit Strenge im Zaum zu halten, um ihnen dann einen “Bildungsplan” überzustülpen. Für die spontanen, individuellen Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes blieb oft zu wenig Platz. Wie sollte es auch eine Kindergärtnerin schaffen auf dreißig Kinder aufmerksam einzugehen?
Während meines Pädagogik-Studiums kam ich durch Zufall zu einem Vortrag, bei dem ein neuer Erziehungsansatz auf Basis der Montessori-Pädagogik vorgestellt wurde. Wie so oft war ich spät dran. Als ich den Raum betrat, wurden gerade Dias gezeigt. Darauf waren Kinder zu sehen, die auf meterhohen Klettergerüsten turnten, gemeinsam kochten, mit Holzperlen rechneten, in einer kleinen Druckerei Texte zu Papier brachten und ein Beet bepflanzten. Pure Idylle!
“Im Pesta wird nicht unterrichtet, die Kinder bestimmen selbst, was sie tun möchten!”, fügte der Vortragende erklärend hinzu. Was meinte er mit “nicht unterrichtet?” Sollte das etwa eine Schule sein? “Wie lernen die Kinder schreiben, rechnen und lesen?” fragte ich.
“Indem sie sich permanent aktiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen!”, lautete die Antwort. “Wörter und Zahlen sind ein Bestandteil ihrer Umwelt.” Ich war “baff”- und zwischen Skepsis und Begeisterung hin und her gerissen. War das die Art von Schule, von der ich als Kind geträumt hatte?
Schulprojekt Pesta – Schule ohne Unterricht?
Der Vortragende war ein Lehrer, der im Kindergarten- und Schulprojekt “Pesta” in Ecuador gearbeitet hatte. Rebeca und Mauricio Wild schufen diese Einrichtung vor über dreißig Jahren für ihre eigenen Kinder. Sie wollten ihren Söhnen eine Umgebung bieten, in welcher sie auf natürliche Weise ihr innewohnendes Potential entfalten konnten.
Entwicklungspsychologische und neurologische Forschungen bekräftigten sie bei diesem Vorhaben. Daraus entwickelte sich ein völlig neuartiger Umgang mit Kindern. Dieser betrifft nicht nur die Praxis in Kindergarten und Schule, sondern das Zusammenleben mit Kindern überhaupt. Dieses Thema ließ mich einfach nicht mehr los. Ich deckte mich mit einschlägigen Büchern ein und besuchte in weiterer Folge Seminare bei Rebeca und Mauricio Wild.
Mit der Zeit begann sich die Frage: “Wie kann eine Schule ohne Unterricht auskommen?”, zu klären. “Wir wussten, was wir nicht wollten”, beschreibt Rebeca Wild die Anfänge des Pestas. Schulkinder sollen „…nach Programm Fragen beantworten, die sie selbst nicht gestellt haben, sollen portionsweise Wissen aufnehmen und Techniken üben, doch nicht aus eigener Neugierde, sondern von außen gesteuert und motiviert. Die ursprüngliche Freude am eigenen Tun wird durch Lob und Tadel und zunehmend durch die Jagd nach Noten ersetzt.“
Der Pesta wirkt auf den ersten Blick so gar nicht wie eine Schule. Er gleicht eher einem “Selbstbedienungsladen”. In den verschiedenen abgeteilten Bereichen finden die Kinder unstrukturiertes Material wie Sand, Wasser, Körner, Knöpfe, Holzstücke, Ton, Farben,… und strukturiertes Material wie Montessorimaterialien, Lernspiele, Bücher, Puzzles, Material für Rollenspiele, Konstruktionsmaterial…
Die Kinder können selbständig die verschiedenen Eigenschaften der Materialien erkunden und ausprobieren. So kommt es z. B vor, dass ein Kind Stunden beim Wassertisch verbringt und mit Wasser schüttet oder aber an einem stillen Plätzchen ein Buch liest. Ein anderes erfreut sich daran, Perlen zu sortieren, zu vermischen und wieder zu sortieren.
“Manchmal arbeiten die Kinder alleine, manchmal in Gruppen oder bitten einen Betreuer bei ihrer Tätigkeit dabei zu sein”, schilderte Mauricio Wild. Die Kinder seien viel damit beschäftigt, sich zu besprechen, Vereinbarungen zu treffen und “Spielregeln” für ihre Tätigkeiten auszumachen.
Im Kindergarten sind die Kinder bis sechs, sieben Jahre, danach wechseln sie in die Primaria. Ab dreizehn besuchen sie die zweite Schulstufe, die Sekundaria. Der Betreuungschlüssel ist so gewählt, dass auf einen Betreuer sieben Kinder kommen.
Dem eigenen Antrieb folgen
Die Kinder im Schulprojekt Pesta sind den ganzen Tag aktiv. Sie entscheiden entsprechend ihrer persönlichen Entwicklungsbedürfnisse was sie tun möchten. Diese sind der Ausdruck eines inneren Entwicklungsplans. Damit sorgt die Natur dafür, dass sich das Kind Tätigkeiten zuwendet, die seiner Entwicklung dienen.
So ist ein Zweijähriges z.B. besonders offen für vielfältige Sinneseindrücke. Es hat Spaß daran, zu pritscheln, zu manschten, zu kneten, klopfen… Mit drei, vier Jahren dominiert die Lust am fantasievollen Spiel. Ein sieben-, achtjähriges Kind ist interessiert am Prinzip von Ursache und Wirkung und am experimentieren. Es will Gesetzmäßigkeiten erforschen und selber “Regeln machen”.
Ein 13-jähriges Kind hingegen möchte sich und seine Stellung in der Welt erkunden und seine sozialen Kontakte festigen. Ihm ist es wichtig Gespräche zu führen, “eine bessere Welt für sich zu schaffen” und seine Identität zu unterstreichen. In jeder Entwicklungsphase steht das Bedürfnis nach bedingungsloser Liebe und Respekt an oberster Stelle. Ohne Liebe ist keine Entwicklung möglich.
Lernen ohne Anleitung
Die interessante Umgebung und die altersgemischte Gruppenstruktur im Schulprojekt Pesta bewirken einen ständigen Austausch. Jüngere schauen den Älteren beim Umgang mit Buchstaben zu, fragen z.B., wie man ein bestimmtes Wort schreibt. Beim Umgang mit unstrukturierten Materialien wird gemessen, gewogen, verglichen, geschätzt, geordnet und sortiert.
“All diese Tätigkeiten sind für kleine Kinder ganz natürlich. Sie gehören zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, längst bevor es uns einfällt, vom ,Rechnen’ zu reden.” Die Freude daran gilt es zu erhalten.
Durch Beobachten, Nachahmen, Ausprobieren, Experimentieren, Konstruieren und Operieren gewinnen Kinder ständig neue Erkenntnisse.
Diese werden in das Netzwerk ihrer Erfahrungen eingeknüpft. In der selbstbestimmten Auseinandersetzung erleben die Kinder konkret was z.B. die Gesetzmäßigkeit einer Division ausmacht, weil sie diese anhand unterschiedlicher Materialen “durchspielen”. So entwickelt sich echtes Verständnis über den Vorgang. Lernen ist für sie kein isolierter, abstrakter Prozess auf der Tafel.
Nichtdirektiver Umgang mit Kindern
Rebeca und Mauricio Wild betonten immer wieder, dass der Pesta kein pädagogisches Modell sei. Sie erzählen Interessierten bloß von ihren Erfahrungen mit Kindern. Diese zurückhaltende Einstellung ist auch ein grundlegender Unterschied zu anderen Erziehungssystemen.
Anstelle von Beschäftigungsvorgaben, Motivierungsversuchen, Druck und Noten tritt das absolute Vertrauen in die Fähigkeit zur selbstbestimmten Entfaltung – innerhalb einer entspannten, vorbereiteten Umgebung. Aus dem Zusammenleben mit ihrem eigenen Sohn schildert Rebeca Wild: “Wir versuchten nicht mehr, ihm zuvorzukommen, ihm alles zu zeigen, zu erklären, zu interpretieren, ihn auf Schritt und Tritt unsere größere Lebenserfahrung spüren zu lassen.”
Leonardo sollte seine eigenen Erfahrungen machen können. Ein Kind, welches z.B. aus eigenem Antrieb gelernt hat, auf eine Sprossenwand zu klettern, wird dies mit Freude, Sicherheit und Leichtigkeit tun. Wird ein Kind hochgehoben, so ist es gezwungen die noch nicht gereifte Fähigkeit notdürftig auszugleichen. Trotzdem braucht das Kind oftmals die emotionale Unterstützung des Erwachsenen dabei.
Grenzen setzen
Die besondere Qualität der vorbereiteten Umgebung des Pestas ist die entspannte Atmosphäre, die selbstbestimmtes Lernen erst möglich macht. Diese wird durch feste Grenzen und Regeln geschützt. “…In der aktiven Schule hat es das Kind mit ziemlich unbeugsamen Hausregeln zu tun, die aus der Notwendigkeit entspringen, einen sicheren Ort für jeden zu schaffen.”
Wie z.B. Material nicht kaputt machen, nach Gebrauch an seinen Platz zurückstellen, niemand anderen bei seiner Tätigkeit stören. Hält sich ein Kind nicht an eine Regel, ist ein Betreuer zur Stelle. “…wenn es sich nicht um eine Extremsituation handelt, versuchen wir, respektvoll Grenzen zu setzen. Das heißt, dass wir uns die Mühe machen, in der eigenen Tätigkeit innezuhalten,…, so nah an den anderen herangehen, dass er unser gewahr wird, …, Blick- oder Körperkontakt aufnehmen und dann erst die Grenze aussprechen.. .”
Z.B. “Ich lasse nicht zu, dass du das Spiel kaputt machst.” So ist dem Kind klar, dass der Erwachsene wirklich meint, was er sagt. Und es ist mit den schmerzlichen Gefühlen (Wut, Weinen), die eine Grenze auslösen kann, nicht allein gelassen.
Gefühle ausdrücken
Die entspannte Atmosphäre des Pestas bewirkt, dass die Kinder den Zugang zu ihren Gefühlen bewahren können. Innere Ausgeglichenheit ist ein wichtiger Faktor für Lernvorgänge. “Lachen und Weinen sind die Schlüssel der Natur, die alte Blockierungen lösen und die mit ihnen verbundenen Energien freimachen”, erklärt Rebeca Wild.
Oftmals genügt ein “kleiner” Anlass, um ein Kind wahre Heulkonzerte anstimmen zu lassen. Dieser Anlass ist dann der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das Kind muss sich von Zeit zu Zeit ausweinen, um angestaute Spannungen abzubauen. Bestärkende Worte des Betreuers, wie ,Ja, das tut weh!’ unterstützen es dabei.
Kann das Kind seinem Gefühl Ausdruck verleihen ohne belehrt oder abgelenkt zu werden, fühlt es sich ernst genommen. “Und auf die Dauer sind wir selbst es dann, die von all diesem Respekt profitieren, denn respektierte Kinder, die der Gegenwart eines Erwachsenen sicher sind, werden sichtlich ruhiger, harmonischer, suchen keine Hintertürchen… .”
Erfahrungen in der Kindergruppe
Die Beschäftigung mit nichtdirektiver Erziehung eröffnete mir einen anderen Zugang zu Kindern. Es war äußerst spannend sich auf ihre Lebendigkeit einzulassen und sie bei ihren Prozessen zu begleiten. Eine Kindergruppe ist wie ein Spiegel.
Jetzt konnte ich darin sehen, dass sich die Kinder grundsätzlich wohl fühlten. Kinder, die ihrem inneren Antrieb folgen können, spüren, was sie brauchen. Sie bewegen sich, singen, lachen, weinen, suchen Kontakt und ziehen sich zurück, wenn ihnen danach ist.
Sie können Entscheidungen treffen und haben Vertrauen zu sich selbst. Und weil sie sich selbst gut fühlen, behandeln sie auch andere gut.
Es ist unglaublich was alles in ihnen steckt. Sie entwickeln die fantasievollsten Ideen und arbeiten mit Ausdauer an ihren Projekten. Sie lernen aus Spaß, wie man dividiert und Wurzel zieht, schreiben freiwillig Aufsätze, bauen Luftschlösser und holen einen Stern vom Himmel, wenn man sie nur lässt…
Foto: Rawpixel.com – shutterstock.com