Im Alltag meistens als harmlos abgetan und doch eine große Gefahr für den Betroffenen und seine Familie: Alkohol. Wie man Probleme richtig einschätzt.
„Weintrinker sehen gut aus, sind intelligent, sexy und gesund“, meint der populäre englische „Wein-Papst“ Hugh Johnson. Was so stylish klingt, stellt sich im wahren Leben viel nüchterner dar: Alkoholismus ist ein gut getarntes Volksleiden mit epidemischen Ausmaßen. Circa 750.000 ÖstereicherInnen gelten derzeit als alkoholgefährdet, 360.000 als tatsächlich alkoholkrank. Damit liegt die rot-weiß-rote Nation im europäischen Spitzenfeld.
Grund genug für die Redaktion, dieses komplexe Leiden zu hinterfragen und an der breiten Akzeptanz der Gesellschaftsdroge Alkohol zu rütteln. Dazu lassen wir zwei Expertinnen zu Wort kommen: die Wiener Allgemeinmedizinerin Dr. Barbara Degn, Vorstandsmitglied der Österr. Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin, sowie die Klinische- und Gesundheitspsychologin, Systemische Familientherapeutin Ing. Dr. Ulrike Hanko aus Hall in Tirol.
Kids und Alkohol
„Der Konsum von Alkohol ist seit Jahrhunderten in unserer Kultur tief verankert und Teil unseres täglichen Lebens, auf den viele von uns nicht verzichten wollen. Während für die meisten Menschen der „soziale“ Alkoholkonsum kein Problem darstellt, gibt es dennoch auch ein weites Spektrum von problematischen Alkoholkonsumgewohnheiten“, betont Degn anlässlich des Lundbeck Presseforums Psychiatrie.
Alkoholkrankheit kann Männer und Frauen aus allen Gesellschaftsschichten treffen. Es gibt kein „klassisches Patientenbild“. „Eine in der Öffentlichkeit deutlich sichtbare Problemgruppe sind die immer jünger werdenden „Koma“-TrinkerInnen im Teenageralter“, hebt die Allgemeinmedizinerin hervor.
Die Gefahr, in eine tatsächliche Abhängigkeit zu rutschen, ist vor allem im Alter zwischen 25 und 40 Jahren am größten. Etwa 30 Prozent der über 50-jährigen Männer sind Problemkonsumenten. Dies bedeutet, dass täglich eine Menge von mehr als drei Krügel Bier (= 60 mg reiner Alkohol) getrunken wird. Doch auch die ältere Bevölkerung ist vor dem problematischen Alkoholkonsum nicht gefeit. Das zeigt sich vor allem darin, dass täglich alkoholische Getränke zu sich genommen werden.
Zwar sind Männer dreimal häufiger betroffen als ihre Geschlechtsgenossinnen, doch „mit dem veränderten Rollenbild der Frau nimmt auch die Zahl der suchtkranken Frauen zu“, hält Degn eine unerfreuliche Entwicklung vor Augen.
Die gute Nachricht dazu: Alkoholkrankheit kann erfolgreich behandelt werden. Oft ist der Hausarzt die erste Anlaufstelle, der gegebenenfalls an andere, infrage kommende Einrichtungen überweisen kann.
- Jede(r) ÖsterreicherIn konsumiert täglich, rein statistisch gesehen, 26,4 g Reinalkohol (das meiste in Form von Bier).Es zeigt sich ein deutliches West-Ost-Gefälle: im Burgenland greift man am häufigsten zur Flasche.
- Die Harmlosigkeitsgrenze bei Männern: 24 g/Tag = 0,6 l Bier = 2/8 Wein; bei Frauen: 16 g/Tag = 0,3 l Bier = 1/8 Wein
- Gesundheitsgefährdung: bei Frauen ab einer durchschnittlichen Tagesmenge von 40 g/Tag = 1 l Bier = 0,5 l Wein; bei Männern: ab 60 g/Tag = 1,5 l Bier = 0,75 l Wein.
- Mindestens (!) zwei alkoholfreie Tage pro Woche sind angesagt
Text: Helene Fiegl
Foto: ollyy – shutterstock.com
Interview
Alkoholsucht – eine psychische Erkrankung
fratz&co im Gespräch mit der Klinischen- und Gesundheitspsychologin sowie Systemischen Familientherapeutin Ing. Dr. Ulrike Hanko aus Hall in Tirol
fratz&co: Man weiß inzwischen, dass nicht nur die Gene Schuld an der Entstehung einer Alkoholabhängigkeit sind. Zu 30 bis 50 Prozent spielen auch Umweltfaktoren mit herein.
Dr. Ulrike Hanko: Ja, es macht in Bezug auf Alkoholerkrankung einen Unterschied, ob jemand z. B. in der Stadt oder am Land wohnt, welche Trinksitten im Umfeld vorherrschen, welcher sozialen Kontrolle das Trinkverhalten unterliegt, wie die finanzielle Familiensituation aussieht bzw. welcher berufliche Background vorliegt.
Betrachtet man die Familie als Einflussfaktor, so zeigen Studien, dass ein kontinuierliches Fehlen einer Bezugsperson einen wesentlichen negativen Einflussfaktor darstellt – damit ist nicht die berufstätige Mutter gemeint, sondern das Fehlen einer liebevollen Fürsorge. Das kann auch der Fall sein, wenn die Eltern zuhause anwesend sind (broken-home), auch eine schlechte Beziehung zwischen Kindern und Eltern wirkt sich negativ aus. Darüber hinaus ist es wichtig, dass Kinder eine eindeutige Haltung gegenüber Alkohol entwickeln können, etwas, das sie von ihren Eltern lernen – dies fehlt bei Alkoholikerfamilien.
fratz&co: Das Koma-Trinken ist ein bedenklicher Trend. Ist das „nur“ jugendlicher Leichtsinn?
Dr. Ulrike Hanko: Als reinen jugendlichen Leichtsinn würde ich dieses Phänomen nicht abtun. Dass Alkohol trinkende Jugendliche immer jünger werden, denke ich, ist erwiesen. Ich erkläre mir das einerseits mit dem leichteren Zugang zu Alkohol, den sich veränderten finanziellen Möglichkeiten und dem immer häufiger werdenden Wegfall sozialer Kontrolle. Von Bedeutung ist auch der Freundeskreis der Kids. Zudem stellt die Privatsphäre der Kinder in der heutigen Gesellschaft ein hohes Gut dar. Die Eltern haben ihren Wirkbereich zurückgenommen. Aber gerade bei diesem Thema, wenn Gefahr für die Jugendlichen besteht, wäre es wichtig, dass Erwachsene ihre Präsenz im Leben ihrer Kinder wieder verstärken. Privatsphäre ja, aber genau so viel wie es die momentane Situation erlaubt.
fratz&co: Gibt es Verhaltensmuster auf dem Weg in die Abhängigkeit, wo man sagen kann: das ist typisch Mann oder typisch Frau?
Dr. Ulrike Hanko: Was sich sagen lässt ist, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede im Trinkverhalten und Trinkmuster gibt. Studien zeigen auch, dass Frauen mit Alkoholproblemen eher allgemeine Hilfsprogramme wie z. B. allgemeinmedizinische oder psychologische Beratung aufsuchen, um ihr Problem in den Griff zu bekommen, und, wenn sie in Behandlung kommen, sind die Symptome bereits stärker ausgeprägt. Dies lässt sich möglicherweise durch eine gesellschaftlich geringere Akzeptanz von Frauen und Alkohol erklären.
fratz&co: Auch Frauen greifen immer öfter zu promillehaltigen Getränken. Ist das ihrer Meinung nach der Preis für die Emanzipation?
Dr. Ulrike Hanko: Ich glaube schon, dass die gesellschaftspolitische Veränderung einen Einflussfaktor darstellt. Ich würde jedoch nicht sagen, dass es der Preis für die Emanzipation ist, da würde man die Verantwortung darüber, ob jemand trinkt oder nicht vom Individuum trennen, und so sehe ich das nicht.
fratz&co: Wie erleben in der Familie Kinder eine alkoholkranke Mutter bzw. einen alkoholkranken Vater und mit welchen Folgen?
Dr. Ulrike Hanko: Der Einfluss von alkoholkranken Eltern auf späteren Alkoholismus der Kinder ist bekannt. Zudem wurde auch erforscht, dass weibliche Alkoholiker noch häufiger als männliche aus einer Alkoholikerfamilie kommen. Aufgrund meiner Erfahrung scheinen Kinder alkoholkranker Eltern eine besondere Fähigkeit darin zu entwickeln Situationen nach ihrer Gefahr / Bedrohung einzuschätzen. D. h., Sie mussten in ihrer Kindheit lernen zu unterscheiden, wie bedrohlich ist die jeweilige Situation zuhause – abhängig vom Alkoholisierungsgrad des Elternteils. Weiters spielt das Phänomen der Co-Abhängigkeit eine große Rolle – das bedeutet: Was tragen die Angehörigen zum Aufrechterhalt der Abhängigkeit bei. So kann z.B. das Aufrechterhalten der Fassade (es soll niemand erfahren, dass ein Elternteil Alkoholprobleme hat) dazu führen, dass Kinder im Erwachsenenalter stark dahingehend orientiert sind, was andere von Ihnen denken.
fratz&co: Woran kann man relativ früh erkennen, dass jemand ein Alkoholproblem entwickelt?
Dr. Ulrike Hanko: Erste Warnsignale können beispielsweise sein: Alkohol dient als Problembewältigungsstrategie oder wird zur Entspannung getrunken (der tägliche, automatische (!) Griff zum Bier – es wird nicht mehr darüber nachgedacht, ob ich vielleicht Lust auf etwas anderes hätte), Kontrollverlust beim Trinken, d.h., regelmäßiges, exzessives Trinken, das Trinken kann nicht mehr beendet werden, das Fehlen von alkoholfreien Tagen, oder wenn diese bewusst herbeigeführt werden müssen.
fratz&co: Wenn jemand mit einem Alkoholproblem zu Ihnen in die Praxis kommt, wie kann man sich im Groben Therapieverlauf und -dauer vorstellen?
Dr. Ulrike Hanko: Diese Antwort ist nicht einfach zu geben, da die Alkoholbehandlung einen dynamischen Prozess darstellt. Wesentliche Inhalte für mich sind: Klärung der Motivation des Klienten und der Angehörigen, Zielklärung, Diagnostik, Entgiftung ja – wo?, Ressourcenaktivierung, Rückfallprophylaxe, Unterstützersysteme, Umgang mit dem „neuen“ Lebensabschnitt.
fratz&co: Was ist eigentlich Ziel einer Therapie? Völlige Abstinenz oder kontrollierter Umgang mit Alkohol?
Dr. Ulrike Hanko: Wichtig ist zwischen alkoholabhängigen Klienten und Problemtrinkern (jene, die am ehesten in die diagnostische Kategorie „Alkoholmissbrauch“ zugeordnet werden können) zu unterscheiden.
Bei alkoholabhängigen Klienten ist das oberste Ziel einer Alkoholbehandlung noch immer eine lebenslange Abstinenz, weil ein kontrolliertes Trinken nicht über einen längeren Zeitraum hinweg durchgehalten werden kann. Zudem setzen Selbsthilfegruppen wie z.B. die Anonymen Alkoholiker eine Abstinenz voraus.
Bei Problemtrinken kann das kontrollierte Trinken, d.h. den Alkoholkonsum auf ein gesundheitliches unbedenkliches Maß zu reduzieren, ein mögliches Therapieziel sein. Letztendlich hängt es aber von der Motivation des Klienten ab, an welchem Ziel gearbeitet werden soll.
Hilfe
Wo man sich im Fall des Falles Unterstützung holen kann
Anonyme Alkoholiker, +43 (0)1/799 55 99, www.anonyme-alkoholiker.at
Blaues Kreuz Österreich, +43 (0)699/1465 1901, www.blaueskreuz.at
ALK-INFO – Internetplattform, +43 (0)1/94 46 217, www.alk-info.com