Nur schüchtern oder mehr?

Gruppenkinder und Einzelgänger

Ein sonniger Frühlingstag im Park. Der Spielplatz ist voll von fröhlichen Kindern, die schaukeln, rutschen oder vergnügt in der Sandkiste Kuchen backen. Carina spielt nicht mit. Sie weigert sich, die Parkbank zu verlassen, auf der ihre Mutter sitzt. Jede Aufforderung, sich den anderen anzuschließen, ruft Angst und Abwehr hervor.

Die Lehrerin hat der Mutter ähnliches berichtet. Carina ist die Außenseiterin der Klasse. Sie sondert sich ab, hat keine Freundin und spricht kaum. Auch zu Hause zieht sie sich in sich selbst zurück. Die Eltern sind ratlos, da Carina weder auf gutes Zureden noch auf Drängen reagiert.

Peter ist ein eher stilles Kind, und wenn die anderen in Gruppen spielen, sitzt er lieber daneben. Er hat aber einen Freund, mit dem er sich wirklich gut versteht. Stundenlang bauen sie einträchtig zusammen an einer Legoburg. „Bei Peter besteht kein Anlaß zur Sorge”, sagt die Kinderpsychologin Univ. Prof. Dr. Brigitte Rollett, “ähnlich manchen Erwachsenen fühlt er sich in Gruppen unwohl und ist eher schüchtern. Aber er ist sehr gut imstande, soziale Beziehungen zu anderen aufzubauen, die seinem scheuen Naturell eben besser entsprechen.” Manche Kinder sind von ihrer Anlage her ruhig und introvertiert, finden aber trotzdem gute Kontakte zu anderen Menschen.

Anders liegt der Fall bei Carina. Prof. Rollett: “Das Mädchen leidet an einer sogenannten Sozialphobie. Darunter versteht man ein Verhalten, das von starker Angst, Unsicherheit, mangelndem Selbstvertrauen und Kontaktproblemen gekennzeichnet ist. Solche Kinder sind extrem ruhig, gehen Fremden aus dem Weg, meiden Spielplätze oder Kindergruppen und stehen bei jeder Art von altersgemäßem Freizeitvergnügen abseits. Dort, wo andere Spaß haben, ziehen sie sich zurück. Sie sprechen nicht, klammern sich an den Eltern fest oder verstecken sich unter Möbeln.” Fünf Prozent unserer Kinder sind von einer stärkeren Form dieser Störung betroffen, das heißt pro Schulklasse ein bis zwei Kinder.

Was sind die Ursachen für eine Sozialphobie

Prof. Rollett: “Grundsätzlich gibt es Kinder, die eher sensibel sind, und solche, die stabiler sind. Wenn nun bei den sensibleren die häuslichen Bedingungen nicht warmherzig und kindgerecht sind, sondern die negativen Erfahrungen überwiegen, kann sich eine Sozialphobie entwickeln.” Prof. Rollett nennt im großen vier Gründe für das Entstehen einer solchen Verhaltensstörung:
Bereits der Säugling wird nicht liebevoll genug behandelt. Die Bedürfnisse werden nicht entsprechend befriedigt und das Kind lernt von Anfang an: “Ich bin nicht wichtig”. In der Trotzphase wird das Kind mit seinen eigenen Wünschen nicht ernstgenommen und die Eltern setzen sich mit Macht durch.
Die ersten Erfahrungen mit Gleichaltrigen sind für das Kind problematisch. Eventuell hat es erst spät sprechen gelernt und ist daher nicht in der Lage, sich angemessen mitzuteilen. So fühlt es sich auch in der Folge im Kontakt mit anderen hilflos.

Das Kind erleidet traumatische Erlebnisse, die es nicht verkraften kann. Dazu gehören häufiger Streit der Eltern, ungerechte Behandlung in Kindergarten oder Schule, eine Scheidung oder ständige Überforderung. Prof. Rollett: “Viele Eltern glauben zum Beispiel, daß man schon Dreijährige in einer Gruppe sich selbst überlassen kann. Kleine Kinder sind aber noch nicht fähig, Probleme und Konflikte allein zu lösen. Sie brauchen die Unterstützung der Bezugsperson.”

Eine Sozialphobie entsteht dann, wenn das Kind tief innen das Gefühl hat: “Ich werde nicht angenommen”. Dann ist jeder Kontakt mit anderen ein angstvolles Erlebnis und es wird mit Rückzug reagiert.
Was können betroffene Eltern tun? Prof. Rolett: “Schon mit dem Kleinkind extrem liebevoll umgehen und im Trotzalter das Kind nicht ,brechen’ sondern vermitteln: ,Du bist eine Person, die ernstgenom-men wird, aber auch die Eltern müssen respektiert werden.’ So lernt das Kind, daß einige seiner Wünsche befriedigt werden, aber eben nicht alle.” Grundsätzlich sollten Eltern sich fragen: Wie kann das Zusammenleben mit unserem Kind so gut und harmonisch wie möglich gestaltet werden? Das Kind soll verstehen: Andere Menschen sind überwiegend eine Quelle der Freude, nicht der Angst. Es gibt natürlich auch schwierige Personen. In diesem Fall muß ich bestimmte Methoden lernen, mit ihnen umzugehen. Das bedeutet aber nicht, daß a l l e meine Feinde sind.

Wann sollten Eltern therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen?

Die Kinderpsychologin: “Je früher, desto besser. Sozialphobisches Verhalten vergeht nicht von alleine und kann später zu schwerwiegenden Verhaltensstörungen führen. Wenn die Eltern merken, daß sie mit dem Problem nicht fertigwerden, sollten sie Hilfe suchen.” In einer Therapie wird versucht, das Kind über das Spiel zu ermutigen, neue Möglichkeiten zu finden, mit anderen umzugehen.
Wann kann es besonders deutlich werden, daß eine Sozialphobie vorliegt? Prof. Rollett: “Beim Eintritt in den Kindergarten oder bei der Einschulung, wenn ein “neuer” Elternteil zur Familie stößt, eine Landschulwoche, ein Krankenhausaufenthalt angetreten wird, oder dann, wenn das Kind sich mit seinen Problemen allein gelassen fühlt.”

Wenn Sie das Gefühl haben, Ihr Kind leidet an einer Sozialphobie, zögern Sie nicht, eine geeignete Therapie zu suchen. Sie können damit Ihrer Tochter oder Ihrem Sohn viel Leid ersparen.

Foto: Sunny studio-Igor Yaruta/Shutterstock.com

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