Noch gestern beim Einschlafen war Kuscheln angesagt. Heute vor der Schule fällt der Abschied frostig aus. Ein kurzes „Tschüß“ und schon knallt die Autotür zu. Das obligate „Abschiedsbussi“ ist nur mehr peinlich. In der Vorpubertät geben Kinder ihren Eltern echte Rätsel auf. Sie lassen ihre Eltern spüren, dass sie jetzt „cool“ sind. Die Sehnsucht Kind bleiben zu wollen steht mit dem Bedürfnis groß und cool zu sein im Widerspruch. Was in den Kindern vorgeht und wie Eltern am besten damit umgehen können.
Clemens ist 10 Jahre alt und geht seit dem Herbst ins Gymnasium. Daheim kuschelt er gerne intensiv mit seinen Eltern und manchmal auch beim Spazierengehen. Doch neulich, als die Familie auf das Haus seines besten Freundes zusteuert, löst er sich plötzlich von seiner Mama, streckt sich, wölbt die Brust vor, steckt die Hände in die Jackentaschen und sagt: „So, genug gekuschelt, jetzt bin ich wieder ein cooles Kind.“
Pauls Papa versteht die Welt nicht mehr. Noch gestern Abend als er seinen Junior zu Bett gebracht hat, wollte dieser Kuscheln als ob sie sich für lange Zeit nicht mehr sehen würden. Heute früh als er ihn zur Schule brachte war der Abschied frostig wie nie zuvor. Das „Abschiedsbussi“, in den letzten Jahren ein festes Ritual zwischen den Beiden entfällt. „Papa, kein Bussi – das ist so peinlich“, hatte der Junior schon vor einigen Tagen erklärt. Nach einem kurzen „Tschüß“ knallt die Autotür zu und Paul verschwindet im Bulk seiner Schulkameraden.
Unbewusst haben Clemens und Paul damit ihre aktuelle Entwicklungsphase auf den Punkt gebracht. „Die Vorpubertät ist der Übergang zwischen Latenzzeit, das ist etwa die Volksschulzeit, und Pubertät“, erklärt die Psychotherapeutin Mag.a Ursula Dietersdorfer. Circa zwischen 10 und 12 Jahren (manchmal auch früher, manchmal später) beginnt die Vorbereitung des Körpers auf die hormonelle Umstellung der Pubertät. „Kinder gehen damit sehr unterschiedlich um, je nachdem wie sie vorbereitet sind“, meint die Pädagogin und Psychotherapeutin. Haben sie etwa größere Geschwister, wissen sie eher, was da passiert und wie man damit umgehen kann – oder besser nicht.
Vorpubertät – der große Wandel kommt
„Die Vorpubertät bereitet den jungen Menschen auf einen großen Wandel vor, das ist eine bedeutende Zeit, mit der auch kulturspezifisch sehr unterschiedlich umgegangen wird“, erklärt Dietersdorfer. Während in den Industrienationen eher das Motto der Beschleunigung vorherrscht, wird in anderen Ländern traditionsbewahrend damit umgegangen und der Phase durch Rituale und intensive Auseinandersetzung eine größere Bedeutung und mehr Zeit beigemessen. Mit Beschleunigung meint die Mutter eines erwachsenen Sohnes die Ungeduld vieler Erwachsener mit den Entwicklungsphasen des Kindes und das leider oft vorhandene Streben, dass das eigene Kind in allem früher dran sein soll als andere Kinder. Es soll möglichst früh gehen, sprechen, rechnen, lesen – dabei wird vergessen, dass jedes Kind sein eigenes Tempo hat und ganz individuelle Zeit braucht, um sich neue Fähigkeiten anzueignen.
Zwischen Kuscheln und Wegstoßen
Gegen die Beschleunigung spricht, dass gerade in der Vorpubertät im „Dazwischen“ ein wichtiger Entwicklungsraum liegt. Laut Dietersdorfer wäre es sehr wichtig, dass Eltern sich auch in dieser Phase den Bedürfnissen ihrer Kinder widmen. „Die Zeit ist gekennzeichnet von einer ambivalenten Gefühlslage zu den Eltern zwischen Hingezogen fühlen und Abstand – zwischen Kuschelbedürfnis und Wegstoßen. Lassen Sie beides zu, stecken Sie aber die Grenzen ab“, rät die erfahrene Erziehungsberaterin.
Dann auch große Kinder – oder solche, die sich schon als „Große“ fühlen – wollen Geborgenheit bei den Eltern finden, vor allem in der schwierigen Übergangszeit zwischen Kindheit und Erwachsenwerden bzw. sein. Denn in der Vorpubertät lassen die Kinder einerseits ihre Kindheit hinter sich und fühlen gleichzeitig, dass die nächste Stufe der Adoleszenz noch nicht da ist. Das hat für manche Kinder etwas Krisenhaftes, für andere überwiegt wieder das Gefühl der freudigen Neugier auf den Aufbruch und die meisten schwanken mehr oder weniger von einem zum anderen.
Diese Zeit ist auch mit einem Schulwechsel und dem Verlust der von der Volksschule vertrauten FreundInnen verbunden. Da brauchen die Kids die Sicherheit und Stabilität, aus der heraus sie wieder ausbrechen und losziehen wollen – und das auch dürfen. Beim „Wegstoßen“ der Eltern, das nötig ist, um ihre eigene Identität zu finden, müssen sie natürlich gewisse Spielregeln einhalten. Beleidigende Untergriffe dürfen ebenso wenig sein wie Erpressung oder gewalttätige Aggression – das gilt übrigens für beide Seiten.