Kinder, Geld und Chaos

Mehr als 600 Familien in Österreich sind aufgefordert, Kindergeld zurückzubezahlen. Und das, obwohl nur stichprobenartig geprüft wurde. Was steckt hinter der Kindergeld-Misere?

Ute Zeller (Name von der Redaktion geändert) ist eine bemerkenswerte Frau. Sie hat es geschafft, im Juli 2002 Zwillinge zur Welt zu bringen, wegen der Frühgeburt mehrere Monate im Mutterschutz zu verbringen und im selben Jahr dennoch 31.380 Euro zu verdienen. Theoretisch zumindest. Tatsächlich hat Ute Zeller seit der Geburt ihrer beiden Kinder keinen Tag gearbeitet – wie auch, wenn die Zwillinge alle zwei bis drei Stunden gefüttert und gewickelt werden mussten. Dennoch hat Ute Zeller die Zuverdienstgrenze zum Kinderbetreuungsgeld überschritten und muss laut Bescheid der Wiener Gebietskrankenkasse vom Juli diesen Jahres 813 Euro zurückzahlen.

Für fast alle

Wie das geht? Beginnen wir am Anfang. Im Jahr 2002 wurde die bisherige Karenzgeld-Regelung vom so genannten Kinderbetreuungsgeld (kurz: Kindergeld) abgelöst. Der Slogan dazu: „Kindergeld für alle“. Nicht nur erwerbstätige Mütter oder Väter sollten Karenzgeld erhalten, sondern alle Betreuungspersonen. Alle? Nicht ganz. Die Regelung gilt nur für jene, die das Recht auf den Bezug von Familienbeihilfe haben, also Österreicher und bestimmte Ausländer. Sie gilt für jene, die mit ihrem Kind in einem gemeinsamen Haushalt leben. Und sie gilt für jene, die nicht mehr als 14.600 Euro im Jahr verdienen. Wer alles erfüllt, erhält momentan rund 436 Euro monatlich zweieinhalb Jahre lang; wenn der zweite Elternteil ebenfalls in Karenz geht, sogar drei Jahre lang.

Die meisten Eltern in Österreich waren und sind mit dem Kindergeld sehr zufrieden. Bis auf einen Aspekt: die Zuverdienstgrenze. Sie ist ein Überbleibsel aus der Zeit des Karenzgeldes, das ja eine Art Versicherungsleistung für berufstätige Mütter darstellte: Wer weiterhin über ein gewisses Maß arbeitet, hat logischerweise keinen Anspruch mehr auf diese Leistung. Nun ist das Kindergeld zwar keine Mütterversicherung mehr, die Zuverdienstgrenze blieb dennoch.

Bitte nicht kontrollieren

Nicht einmal unter Politikern ist die Zuverdienstgrenze sonderlich beliebt. Der damalige Sozialminister Herbert Haupt ließ die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse im Jahr 2004 per Weisung wissen, dass sie die Zuverdienstgrenze nicht kontrollieren und kein Geld zurückfordern solle. Das Gesetz galt zwar noch, schien aber nicht mehr exekutiert zu werden. Ein Freibrief für die Zuverdiener? Die neue Familienministerin Andrea Kdolsky sieht die Sache etwas anders. Sie wies die Gebietskrankenkassen im Frühling diesen Jahres an, die Zuverdienstgrenze in Stichproben zu überprüfen. Kontrolliert wurden etwa 20 Prozent der Fälle im Jahr 2002.

Zu viel verdient

Das Resultat war eine böse Überraschung: Die Länder mussten bis zu 40 Prozent der geprüften Fälle beanstanden. Zwei von fünf Kindergeld-Beziehern hatten die Zuverdienstgrenze also überschritten. Insgesamt 629 Rückzahlungsbescheide wurden ausgeschickt, bei den meisten ging es um Beträge zwischen 1500 und 2000 Euro. Eine Gnadenfrist haben die Familien in Salzburg erhalten: Die Salzburger Gebietskrankenkasse weigert sich trotz Weisung der Ministerin bis heute, die Rückzahlungen einzufordern.
Unklare Fronten!

Die Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Kindergeld-Misere waren geteilt. Die einen forderten umgehend eine Amnestie (unter ihnen auch Kanzler Alfred Gusenbauer), eine Neuregelung (Frauenministerin Doris Bures) oder gleich die Abschaffung der Zuverdienstgrenze (Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl). Kritisch über die Zuverdienstgrenze haben sich in Stellungnahmen zur ins Haus stehenden Kindergeld-Gesetzesnovelle (siehe Kasten unten) auch das Österreichische Institut für Familienforschung, das Land Niederösterreich und der Katholische Familienverband geäußert.

Selbstverständlich gab es aber auch Stimmen, die das Kontrollieren der Zuverdienstgrenze für richtig halten. „Was sind das für Mütter“, echauffierten sich die Teilnehmerinnen einer Diskussionsrunde der ÖVP-Frauen. Schließlich seien 14.600 Euro ein normales Jahresgehalt: Wie könne man sich da noch um die Kinder kümmern? Und man stünde ja blöd da, wenn man sich an die Gesetze halte.

Verdienst ohne Arbeit

Sieht man sich die beanstandeten Fälle näher an, entsteht jedoch ein völlig anderes Bild. Und damit wären wir wieder bei Ute Zeller, ihren Zwillingen und ihrem fiktiven Jahresgehalt. Wie kann es sein, dass sie seit der Geburt keinen Tag Erwerbsarbeit geleistet hat und dennoch über die Zuverdienstgrenze gekommen ist? Der Grund dafür ist die Art, wie Einkünfte aufs Jahr hochgerechnet werden, wenn es um die Zuverdienstgrenze geht.

Ute Zeller brachte im Juli, fünf Wochen vor Geburtstermin, ihre Zwillinge zur Welt. Bis Anfang November hatte sie Arbeitsverbot. Mit Ende des Mutterschutzes konsumierte sie, wie bei vielen Arbeitgebern üblich, ihren restlichen Urlaub. Gleichzeitig erhielt sie die Mitteilung der Gebietskrankenkasse, dass sie ab 6. November Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld habe. „Die Anträge fürs Kinderbetreuungsgeld wurden mir fix fertig mit Datum zugeschickt, natürlich unterschreibe ich das so“, sagt Ute Zeller.

Diverse Unterlagen wurden von der Krankenkasse nachgefordert, die junge Mutter meldete alles wahrheitsgetreu. Fast fünf Jahre danach kommt der Bescheid: Zwei Monate Kindergeld werden wegen Überschreitens der Zuverdienstgrenze zurückgefordert. Zeller hat zwar nur 4000 Euro Urlaubsentgelt erhalten, das Einkommen in den beiden Kindergeldmonaten wird aber aufs gesamte Kalenderjahr hochgerechnet. Und plötzlich betrug ihr Jahresverdienst – theoretisch – 31.380 Euro.

Recht oder gerecht?

Ute Zeller kann diese Logik nicht nachvollziehen. Umso weniger, als die Rechnung aufgegangen wäre, hätte sie 2002 länger Kindergeld bezogen. „Wenn ich meine Kinder früher bekommen hätte, wäre sich alles ausgegangen. Es hängt rein zufällig vom Geburtstermin ab, ob ich die Zuverdienstgrenze überschreite oder nicht. Das ist das Ungerechte.“ Ute Zeller hat ihren Fall dem Volksanwalt vorgelegt und Klage beim Arbeits- und Sozialgericht eingelegt: im Übrigen die einzige Möglichkeit, sich gegen den Rückzahlungsbescheid zu wehren. Zeller: „Was mich ärgert, ist, dass man in der Öffentlichkeit so dargestellt wird, als hätte man die Kinder im Stich gelassen und wäre Geld scheffeln gegangen.“

Die Rechnung

Ute Zeller ist kein Einzelfall, sondern die Regel. „Die Hochrechnung scheint der Grund zu sein, warum die Grenze überschritten wird“, sagt Wolfgang Panhölzl, Sozialversicherungsexperte der Arbeiterkammer Wien. Die AK vertritt 15 Rückzahlungsfälle; bei keinem Einzigen kann die Rede davon sein, dass die betroffenen Familien das System bewusst ausgenutzt haben. „Es ist absolut glaubhaft, dass die Frauen nicht im Traum daran gedacht haben, dass sie von der Zuverdienstgrenze betroffen sind. Und jetzt kommen nach fünf Jahren die Forderungen.“

Das Hochrechnungsmodell ist schwer zu durchschauen. Noch komplexer wird es, weil bestimmte Einkünfte zum Zuverdienst zählen, andere wiederum nicht. So wird zum Beispiel „Urlaubsersatzleistung“ bei Beendigung eines Dienstverhältnisses nicht angerechnet, „Urlaubsentgelt“ bei einem fortgesetzten Dienstvertrag aber sehr wohl.

Zuschussfälle

In einem anderen Fall hat eine Familie den Zuschuss zum Kindergeld in der Höhe von etwa 182 Euro beantragt. Der Vater war zu diesem Zeitpunkt arbeitslos, hat aber später eine Stelle gefunden, ein halbes Jahr gearbeitet und rund 10.000 Euro verdient. „Um den Zeitpunkt der Überschreitung der Zuverdienstgrenze abschätzen zu können, hätte der Mann jeden Monat eine Hochrechnung durchführen müssen“, erklärt Wolfgang Panhölzl. „Jetzt ist die Ehe geschieden und die allein erziehende Mutter von zwei Kindern soll 1500 Euro zurückzahlen.“ Und das, obwohl der Zuschuss zum Kindergeld sowieso eine Art Kredit ist, der dem Staat per Steuererhöhung zurückbezahlt wird, sobald man ein gewisses Jahreseinkommen erreicht.

In einigen Bundesländern betreffen mehr als 80 Prozent der beanstandeten Fälle den Zuschuss zum Kindergeld. Mehrere Dutzend Klagen sind nun beim Arbeits- und Sozialgericht anhängig. Bis ein letztinstanzliches Urteil vorliegt, wird mindestens ein Jahr vergehen. Ute Zeller hatte schon jetzt Erfolg: Die Wiener Gebietskrankenkasse teilte ihr Mitte September mit, dass sie auf die Forderung verzichte – das Schreiben des Volksanwalts hatte Wirkung.

Neues Gesetz

Ein wenig Licht ins Kindergeld-Chaos könnte die Gesetzesnovelle bringen, die ab Jänner 2008 in Kraft treten wird. Trotz der großen Kritik während der Begutachtungsfrist soll die Zuverdienstgrenze zwar nicht fallen, aber immerhin auf 16.200 Euro erhöht werden. Noch wichtiger ist, dass in Zukunft bei Überschreitung der Zuverdienstgrenze nicht mehr das Kindergeld für das gesamte Kalenderjahr zurückgefordert wird. Stattdessen bezahlt man die Differenz zwischen Jahreseinkommen und Zuverdienstgrenze. Ob das Berechnungsmodell des Zuverdienstes so verändert wird, dass es ein Normalsterblicher versteht, ist derzeit noch unklar.

So berechnet sich der Zuverdienst:

Bruttoeinkünfte der Monate mit Kinderbetreuungsgeld minus gesetzliche Abzüge durch Anzahl der Monate mit Kinderbetreuungsgeld im Kalenderjahr mal 12 minus Werbungskosten (mind. Pauschale von 132 Euro) plus 30 % dieser Summe ist gleich Jahresverdienst

TIPP: Sie können in einem oder mehrere Monaten per Antrag auf das Kindergeld verzichten. Machen Sie davon Gebrauch, wenn Urlaub, Bonus, Gewinnbeteiligung etc. ausbezahlt werden. Die Einnahmen in Monaten ohne Kindergeldbezug zählen nicht zum Zuverdienst!

Infos:

www.kindergeldrechner.at
www.arbeiterkammer.at

www.bmgfj.gv.at

Markus Widmer

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