„Meine Kinder haben mich noch nie nackt gesehen.“ Ein Satz der wahrscheinlich bei einem Teil der Bevölkerung auf Zustimmung stößt während er vermutlich beim anderen Fassungslosigkeit hervorruft. Womit sich die Frage aufdrängt: Wo ist die Grenze zwischen falscher Scham und anständigem Verhalten? Was ist erlaubt und was verboten?
Text: Dominique Barborik
Eines der heikelsten – wenn nicht das heikelste Erziehungsthema überhaupt – ist die Sexualität. Was ist erlaubt, was verboten? Das Schwierige bei diesem Thema ist der Umstand, dass Menschen nicht nur verschieden sind, sondern die Dinge auch unterschiedlich empfinden bzw. wahrnehmen. Was für den einen ganz normal ist, erzeugt beim anderen Unbehagen. Das gilt auch schon für die Allerkleinsten. Dadurch ist es schwierig, allgemeine Regeln im Bezug auf den Umgang mit Sexualität im Allgemeinen und innerhalb der Familie aufzustellen. Die einzig zulässige Regel ist, dass die Intimsphäre des Kindes zu wahren ist! Wo diese Intimsphäre beginnt und wo sie endet, bestimmt einzig und alleine das Kind selbst. Die Aufgabe der erwachsenen Familienmitglieder liegt darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren und unbedingt auch gegenüber Dritten zu verteidigen. Das bedeutet für Eltern eine jahrelange Gratwanderung.
Sie beginnt bereits bei kleinen Kindern, wenn es gilt zu beurteilen, inwieweit die Beschäftigung mit dem eigenen Geschlechtsorgan tolerabel oder das kindliche Doktorspiel akzeptabel ist. Es ist wichtig, dass Eltern von Anfang an alle Körperteile, vor allem die Genitalien mit ihren Namen benennen und nicht durch seltsame Bezeichnungen verniedlichen. Für die positive sexuelle Entwicklung des Kindes ist es wichtig, dass es diesem möglich ist, sich regelmäßig und ungestört mit dem eigenen Geschlechtsorgan auseinander zu setzen. Die Lust an diesen Spielen muss erlaubt sein und darf unter keinen Umständen tabuisiert werden. Durch das Erkunden des eigenen Körpers lernt das Kind sich selbst und seinen eigenen Körper kennen, entwickelt ein gutes Körperbewusstsein und kann
später die erwachsene Sexualität als etwas Schönes erleben. Dazu sind nämlich nur Menschen fähig, die von Geburt an den Umgang mit Nähe und Distanz im wahrsten Sinne des Wortes erleben und folglich erlernen durften. Dass Berührung etwas mit Zuneigung zu tun hat, wissen nur Kinder, die dies tatsächlich erfahren haben. Nur wem es von klein auf erlaubt ist, Emotionen, Gefühle und auch Lust im Alltag regelmäßig auszuprobieren, der ist in der Lage, seine Bedürfnisse und Empfindungen kennenzulernen und mit ihnen angemessen umzugehen.
Individuelle Grenzen
Beim „Doktorspiel“ gestaltet sich die Sache wesentlich komplexer. Hier geht es nicht um den eigenen Lustgewinn, sondern um erste – wenn auch kindliche – sexuelle Erfahrungen. Kinder erleben hier spielerisch, aber deutlich, dass die eigenen Grenzen und Empfindungen nicht zwangsläufig für alle Menschen gelten. „Es ist sehr wichtig, dass Kindern bewusst gemacht wird, dass die Grenzen des jeweils anderen unbedingt respektiert werden müssen. Unter keinen Umständen dürfen sie überschritten werden und selbstverständlich muss klar sein, dass nichts erlaubt ist, das dem anderen weh tut oder ihn gar verletzen könnte. Darüber hinaus ist es unbedingt notwendig mit dem Kind zu besprechen, dass diese Art von Spielen in Bezug auf Erwachsene auf gar keinen Fall in Ordnung ist. Auch nicht, wenn diese „nur“ als Beobachter (Schaulust!) auftreten“ betont in diesem Zusammenhang Dr. Manfred Pawlik, Mitglied im Familienberatungsteam der Wiener Kinderfreunde.
Wenn solche sexuellen „Erkundungsversuche“ zwischen gleichgeschlechtlichen Kindern stattfinden, ist das mit Sicherheit kein Vorzeichen einer späteren Homosexualität. Genauso wenig wie kleine Buben, die in Rollenspielen gerne die Mama mimen, keine potentiellen Transvestiten sind. Ganz im Gegenteil, es ist völlig normal und entspricht dem jeweiligen Entwicklungsstadium eines Kindes, dass es sich vorerst noch mit dem eigenen Geschlecht auseinandersetzt bevor es das andere Geschlecht erkundet. Manchmal macht es einfach nur Spaß, in eine andere Rolle zu schlüpfen.
Wichtig ist auch, dass Kinder und Jugendliche die Möglichkeit haben, sich regelmäßig räumlich zurückzuziehen. Eltern sollten es nicht als selbstverständlich erachten, jederzeit ohne Vorankündigung in das Zimmer hinein zu platzen. Das Zugestehen von Privatsphäre bedeutet, dem Kind Eigenverantwortung zu übergeben, also zuzulassen, dass sich diese Bereiche der elterlichen Kontrolle entziehen, was ein gewisses Maß an Vertrauen voraussetzt.
Grenzen respektieren
Der richtige Umgang mit Sexualität in der Familie fordert von den Erwachsenen eine hohe Bereitschaft zur Selbstreflexion und setzt voraus, dass diese ihre eigenen Gefühls- und Körpergrenzen hinterfragen und auf ihre Richtigkeit überprüfen. Erwachsene, die als Kinder das Glück hatten, dass ihre Intimsphäre gewahrt und ihre Grenzen akzeptiert wurden, werden dies ganz automatisch an ihre Kinder weitergeben. Für alle anderen wäre es wichtig, sich bewusst zu machen, was sie in diesem Bereich als Kind vermisst oder als „falsch“ empfunden haben und versuchen, diese Erfahrungen aufzuarbeiten. In manchen Fällen wird es ausreichen, sich entsprechende Literatur zum Thema Sexualität bzw. Sexualerziehung zu besorgen oder Erfahrungen mit Freunden auszutauschen. Andernfalls ist es sinnvoll, das Gespräch mit einem/r ErziehungsberaterIn oder PsychologIn zu suchen.
Ganz wichtig: die Aufklärung
Im Volksschulalter werden Kinder dann häufig mit einer sexualisierten Sprache konfrontiert, mit deren Anwendung sie gerne in allen möglichen und unmöglichen Situation auftrumpfen und oft auch für Aufsehen sorgen. Solche sprachlichen Experimente sind durchaus normal, sollten aber mit dem Kind besprochen werden. Es ist wichtig zu hinterfragen, ob es die Bedeutung der benutzen Worte überhaupt kennt und versteht. Ist dies nicht der Fall, ist es erforderlich diese – altersadäquat – zu erklären. Oft stellt sich nämlich heraus, dass den Kindern zwar durchaus bewusst ist, dass die verwendeten Worte zu den „verbotenen“ gehören, sie aber keine Ahnung haben, was sie bedeuten. Eine entsprechende Aufklärung führt in der Folge häufig dazu, dass diese Ausdrücke nicht weiter verwendet werden.
In diese Zeit fällt auch der richtige Zeitpunkt für „die Aufklärung“, die in ganz unterschiedlicher Form im Rahmen des Schulunterrichts erfolgt. Trotzdem ist es wichtig, dass dieses Thema auch seitens der Eltern thematisiert wird. Es ist sinnvoll zu hinterfragen, was das Kind wie verstanden hat. Einerseits um mögliche Missverständnisse aufzuklären und andererseits um dem Kind die Möglichkeit zu geben, in vertrauter Atmosphäre, unbeobachtet von den Klassenkameraden das Gehörte nochmals zu hinterfragen. Bei diesen Gesprächen ist einmal mehr das oberste Gebot, die „Dinge“ beim richtigen Namen zu nennen. Den Gesprächsinhalt bestimmt das Kind.
Parallel entwickeln Kinder ungefähr zu dieser Zeit ein bis dahin nicht vorhanden gewesenes Schamgefühl gegenüber ihren Eltern, was diese wiederum verunsichert, so dass sie nicht länger sicher sein können, ob es nun weiterhin in Ordnung ist, sich vor den Kindern nackt zu zeigen oder nicht. Auch hier gilt: Die Jugendlichen bestimmen, wo ihre Grenzen sind. Es ist im Hinblick auf einen gesunden Umgang mit Sexualität wichtig, dass Eltern die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ihrer Kinder so gut wie möglich fördern. Vor allem in der Pubertät macht sich das mehr als bezahlt. Gerade da ist für die Heranwachsenden das Gefühl wichtig, dass sie ernst genommen werden. In dieser Phase erhält das Thema Sexualität eine ganz neue, aber nicht weniger wichtige Bedeutung. Die Frage ob es in Ordnung ist, mit ihnen gemeinsam zu baden, stellt sich hier schon längst nicht mehr. Je besser dieses Thema bis dahin aufbereitet wurde, umso besser wird die bzw. der Pubertierende mit ihrer bzw. seiner Sexualität umgehen können. Dennoch ist es angemessen und notwendig Kindern zu vermitteln, dass bestimmte Äußerungen, Berührungen oder Körperhaltungen nur in bestimmten Situationen passend sind. Dieses Einfordern sozialer Regeln in Bezug auf Sexualität sollte aber möglichst ohne moralische Wertungen auskommen. Auch ist es wünschenswert, dass Eltern ihren Kindern jederzeit als Informationsquelle zum Thema Sexualität und allem, was dazu gehört, zur Verfügung stehen. Das reicht von der Bereitstellung jeweils altersadäquater Lektüre bis zum gemeinsamen Besuch beim Gynäkologen oder Urologen bis zur Hilfestellung in Form von Ratschlägen und Tipps. Diese sollten dann jedoch neutral und informativ formuliert sein und persönliche Kommentare tunlichst vermeiden. Keine einfache Aufgabe, aber mit viel Geduld und Liebe durchaus zu bewerkstelligen.
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