Schneller, besser, mehr: Die stetig steigenden Anforderungen unserer modernen Leistungsgesellschaft haben auch großen Einfluss auf unseren Nachwuchs. Und stellen Eltern vor die Frage: Wie entwickeln Kinder einen „gesunden Egoismus“, um heutzutage bestehen zu können, und lernen dennoch sich sozial zu verhalten?
Text: Birka Mackinger
Petra schwankt immer öfter zwischen Hilflosigkeit und Verzweiflung. Ganz bewusst wollte sie in ihrer Erziehung dem Ego-Trip der Gesellschaft etwas entgegen setzen und ihrem Sohn Max die Vorteile sozialen Verhaltens und Werte wie Mitgefühl, Teilen und Helfen vermitteln. Im Moment hat sie jedoch den Eindruck, dass all ihre bisherigen Bemühungen wenig fruchten, denn ihr Sohnemann scheint mit seinen knapp drei Jahren gerade das zu sein, was Petra so tunlichst zu vermeiden versuchte: Ein kleiner Egoist, der auf nichts und niemanden Rücksicht nimmt und alles und noch viel mehr haben möchte – mit Trotzblick, in die Hüfte gestemmten Händen und stampfenden Füßen.
Teilen will gelernt sein
Was Petra derzeit so beunruhigt, das relativieren aktuelle Erkenntnisse aus der Hirnforschung: Kleinkinder sind aufgrund ihrer Entwicklung zunächst einmal auf sich selbst und ihre Bedürfnisse bezogen. Erst später lernen sie die Bedürfnisse von anderen wahrzunehmen und darauf einzugehen, vorausgesetzt sie haben ein entsprechendes Verhalten erklärt und vorgelebt bekommen! Während Kinder zwar bereits im frühen Alter von etwa einem Jahr Mitgefühl empfinden und mit zwei Jahren andere trösten können, entsteht die Fähigkeit, fair zu handeln und gerecht zu teilen erst im Grundschulalter – mit der Reifung jener Gehirnregion, die für Impulskontrolle wichtig ist. Soziale Fähigkeiten entstehen aber auch dann nicht von selbst über Nacht, sondern sind das Ergebnis jahrelanger Vorarbeit: Eltern sollten ihrem Kind daher von Klein auf immer wieder die Vorteile sozialen Verhaltens erklären, ihm die Möglichkeit geben, sich darin zu üben, es durch Lob bestärken – und mit gutem Beispiel vorangehen.
Vorbild mit Wirkung
Manche Eltern sind jedoch selbst so im Teufelskreis der modernen Leistungsgesellschaft gefangen, dass ihnen gar nicht bewusst ist, dass sie ihren Kindern eben kein gutes Vorbild sein können, wenn sie selbst Wasser predigen, aber Wein trinken. In der Theorie möchten sie selbstverständlich (!) keine kleinen Egoisten heranziehen, aber in der Praxis ist ihnen dann eine Designerhandtasche und ein Auto noch lange nicht genug, ebenso wenig wie das Smartphone-Modell aus dem Vorjahr, und der nächste Urlaub sollte jedenfalls noch schöner, luxuriöser und spektakulärer werden als der vorige. Den wenigsten Eltern gelingt es, ihr Kind zumindest bis zum Grundschulalter vor dem Konkurrenzdenken und Leistungsdruck der Gesellschaft zu bewahren – und einfach nur Kind sein zu lassen. Wen wundert es also, dass unsere Kinder mit diesem Hintergrund früher oder später zu Einzelkämpfern werden, die nur an sich denken?
Zeit zum Spielen!
Doch nicht nur durch das elterliche Vorbild erlernen Kinder soziale Fähigkeiten und werden zu Teamplayern: Der gemeinsamen Zeit mit den Eltern sowie dem ausgelassenen Spiel mit Gleichaltrigen kommt hier große Bedeutung zu. „Kinder haben noch alle Zeit der Welt und die Fähigkeit gedanklich im Spiel zu versinken. Erwachsene können das leider oft nicht mehr. Dabei würde es sich für alle lohnen,wenn Eltern mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, gemeinsam zur Ruhe kommen, einander wieder mehr zuhören und dadurch besser verstehen. Dafür braucht es keine teuren Urlaube oder ausgefallene Freizeitaktivitäten, es sind oft die einfachen Dinge, die Kindern und Eltern Spaß machen und nachhaltig auf die Beziehung wirken. Mit Kindern Käfer oder Ameisen beobachten, Abenteuer im Wald suchen, kreatives Malen oder Werken, Geschichten erfinden oder lustig im Wasser plantschen bringt mehr, als weiter zu hetzen“, appelliert Dr. Belinda Mikosz, Leiterin des Psychologischen Dienstes der Stadt Wien. Mittlerweile wurden diese Erkenntnisse aus der Praxis auch von renommierten Hirnforschern, wie Dr. Gerald Hüther unter dem Begriff „shared attention“, bestätigt: „Das menschliche Gehirn ist als ein sich selbst organisierendes System zu verstehen, das sich in hohem Maße durch Beziehungserfahrungen in Interaktionen strukturiert.“ Doch dafür bleibt durch TV, PC, Smartphone und diverse Frühförderungskurse oft kaum mehr Zeit.
Weniger WIR, mehr ICH
Der Wandel der Gesellschaft hin zur „Individualisierung“, in der nicht die Gemeinschaft, sondern das Individuum mit seinen Leistungen, Wünschen und Bedürfnissen im Mittelpunkt steht, spiegelt sich besonders deutlich in der heutigen Arbeitswelt wider. Eine bessere Ausbildung verspricht bessere Chancen am Arbeitsmarkt und damit im Leben. Der Druck auf den einzelnen nimmt dadurch ständig zu, Dauerstress in der Arbeit ist mittlerweile Alltag. „Die schwierige Situation am Arbeitsmarkt erzeugt bei Jugendlichen großen Druck, möglichst schnell ihre Ausbildung zu absolvieren und in den Arbeitsmarkt einzusteigen“, bestätigt Dr. Natalia Wächter, Soziologin am Institut für Höhere Studien. Die Verantwortung eines Scheiterns wird aber dann auf den einzelnen übertragen. Ein Ende dieser Entwicklung scheint derzeit nicht in Sicht.
Gesellschaft mit Zukunft
„Wir alle leben in einer leistungsorientierten Zeit und erziehen unsere Kinder ganz bewusst darauf, in unserer Konsumgesellschaft zu funktionieren. Gleichzeitig wollen wir heutzutage unsere Kinder aber auch zu verantwortungsbewussten Menschen heranziehen, die keine Egoisten sind“, bringt MMag. Manfred Zentner, Jugendforscher am Institut für Jugendkulturforschung und Kulturvermittlung, die große Herausforderung, vor der Eltern heute stehen, auf den Punkt.Es gilt also in der täglichen Erziehungsarbeit durch Vorleben und Aufzeigen von Alternativen einen Spagat zu schaffen: Der Nachwuchs soll die Möglichkeit haben, einen „gesunden Egoismus“ zu entwickeln – als Schutz vor dem Egoismus der anderen und um in der heutigen Gesellschaft erfolgreich bestehen zu können. Gleichzeitig ist es aber wichtig, dass Kinder soziales Verhalten erlernen als Basis für ein ausgeglichenes, glückliches Leben. Was man bei all seinen Bemühungen jedenfalls nicht vergessen sollte: „Es geht nicht darum, was mich als Elternteil glücklicher macht, sondern, ob es der Nachwuchs dann später auch schafft, in dieser Welt zu bestehen“, gibt Zentner zu bedenken. Petra und Max haben also noch sehr viel Arbeit vor sich, aber jetzt wird erst einmal gespielt!
Fotos: Ines Weber