Kilian hat ADHS. Seit 19 Jahren begleitet Daniela Chirici ihren Sohn durch alle Höhen und Tiefen. Im Interview mit fratz.at spricht sie offen über Ihre Erfahrungen, Sorgen und Nöte und warum aufgeben für sie – trotz aller Schwierigkeiten – nie eine Option war.
„Kilian ist 18. Ich begleite ihn schon seit zehn Jahren.“ So beginnt die sehenswerte Dokumentation des SRF, die seit Herbst 2020 allein auf Youtube mehr als 315.000 mal aufgerufen wurde. Titel der Doku: „Eine Kindheit mit ADHS – Leben mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“.
Hauptdarsteller – wenn man es so sagen darf – sind Kilian und seine Mutter Daniela Chirici. Eine Mutter, die kämpfen musste – kämpfen mit Vorwürfen, Vorurteilen und Selbstzweifeln. Eine Mutter, die dranbleiben musste – dranbleiben für ihren Sohn. Und sie hat es geschafft.
Jetzt hat sie ein Buch veröffentlicht in dem sie Einblick gewährt in ihr Leben mit Kilian. Sie beschreibt in ihrem Buch, wie es ist, mit einem ADHS-betroffenen Kind unterwegs zu sein und was dies für die ganze Familie bedeutet. Kein Ratgeber, sondern ein Buch in dem man sich wiederfinden kann. Ein Buch übers Leben, ein Buch über Menschen – ein Buch das Hoffnung macht. (Mehr zum Buch finden Sie rechts im Kasten). Aus Anlass der Bucherscheinung hat sie mit fratz.at über ihre Eindrücke und Erfahrungen gesprochen.
Ich möchte anderen Eltern Mut, Zuversicht und Hoffnung geben
fratz.at: Liebe Frau Chirici, entschuldigen Sie, wenn ich das Interview etwas ungewöhnlich beginne. Am Ende der TV-Dokumentation „Eine Kindheit mit ADHS“ hat ihr Sohn die Zusage für einen Ausbildungsplatz bekommen. Das war vor etwas mehr als eineinhalb Jahren. Wie geht es Ihrem Sohn heute?
Daniela Chirici: Kilian geht es sehr gut, er ist weiterhin in der Vorpraktikumslehre und geht jeden Tag sehr gerne arbeiten.
Sie haben kürzlich im Hogrefe-Verlag Ihr Buch „Eine Kindheit mit ADHS – Leben mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“ veröffentlicht. Wie kam es zu dem Buch und was war Ihre Motivation dieses Buch zu schreiben?
Ich habe 10 Jahre lang, für die ADHS-Organisation (elpost), Texte geschrieben in der Rubrik „Neues von Kilian“. Sie sind die Grundlage des Buches. Ich selbst hätte mir damals ein solches Buch sehr gewünscht. Ratgeber und Sachbücher gibt es sehr viele, die sind auch sehr hilfreich und empfehlenswert. Doch wie gehe ich als Mutter bzw. wie gehen wir als Eltern mit der Diagnose ADHS um? Was bedeutet das für die ganze Familie und die Partnerschaft, wie sieht der Alltag aus mit einem betroffenen Kind? Das fehlt leider oft in den Ratgebern. Mit dem Buch möchte ich anderen Eltern Mut, Zuversicht und Hoffnung geben, dass sich dranbleiben lohnt.
Im Klappentext zu Ihrem Buch heißt es unter anderem: „ADHS? Das gibt es doch nicht, Ihr erzieht Euer Kind nicht, das ist das Problem. Ihr Eltern seid das Problem und nicht das Kind.“ Eine – leider auch in Österreich – weitverbreitete Aussage, welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich gemacht?
Ich selbst habe diese Sätze und Angriffe sehr oft erlebt und ich hatte Selbstzweifel, ob ich eine gute Mutter bin. Ich wusste nicht, was ich falsch mache. Ich fühlte mich schuldig nicht das aus meinem Kind zu machen, was die Gesellschaft von mir und Kilian verlangt. Als Kilian die Diagnose ADHS erhielt war mir klar, warum es bei ihm anders lief. ADHS ist kein Erziehungsproblem, sondern eine Stoffwechselstörung im Gehirn, das ist wissenschaftlich belegt.
Bei ihrem Sohn wurde die Diagnose ADHS im Alter von sechs Jahren gestellt. Wann haben Sie selbst bemerkt, dass Kilian etwas anders ist als andere Kinder?
Kilian war bereits nach der Geburt sehr auffällig. Er war ein Schreibaby, brauchte ganz klare Strukturen und Abläufe. Kilian war immer in Bewegung und konnte keine ruhigen Spiele spielen. Sozial machte sich Kilian durch seine Impulsivität sehr unbeliebt. Kilian „schoss“ immer drein, aber nicht weil er das wollte, sondern weil er seine Kraft nicht dosieren konnte. Es fehlte ihm die „innere Handbremse“.
Für uns war das eine schwere Zeit, in der ich oft nicht wusste wie es weiter geht
Ihr Sohn hat mehrmals die Schule gewechselt. Welche Erfahrungen haben Sie mit Schulbehörden, Schulen bzw. Lehrerinnen und Lehrern gemacht?
Eine gute Kind-Lehrer-Beziehung ist extrem wichtig für alle Kinder, besonders Kinder mit ADHS brauchen dies sehr. Kilian wurde, aufgrund seiner Impulsivität, von der Sonderschule „geschmissen“. Ich frage mich, wenn nicht in der Sonderschule, wo dann haben Kinder wie Kilian Platz? Mit der Schulbehörde war es nicht einfach, ich musste mich für meinen Sohn sehr einsetzten. Am Schluss entschied die Schulbehörde dann doch positiv und übernahm endlich die Schulkosten für Kilian. Für uns war das eine schwere Zeit, in der ich oft nicht wusste wie es weiter geht und eine Lösung suchen musste.
Was waren die schwierigsten Situationen im Leben mit Kilian?
Die schwierigste Situation im Leben von Kilian, war die Schulzeit, die er dennoch nach so vielen Widrigkeiten erfolgreich abgeschlossen hat. Auch die sozialen Kontakte und seine Impulsivität.
Hat es in all den Jahren manchmal Zeiten gegeben, in denen Sie sich dachten: „Ich kann nicht mehr.“ Wie oder wo haben Sie sich Kraft geholt?
Ja, die hat es sehr oft gegeben, dennoch bin ich drangeblieben und habe nicht aufgegeben. Das kam für mich nicht in Frage, denn ich wusste, wenn ich aufgebe, hat Kilian keine Chance.
Ich suchte mir „Inseln“, in denen ich auftanken und abschalten konnte. Ich beschloss mein Kindheitstraum zu verwirklichen und lernte Panflöte spielen. Ich spiele heute noch in einem Ensemble. Ich entdeckte das Segeln und gehe gerne auf dem Meer oder auf dem See segeln. Ich ging mit Freundinnen wellnessen oder genoss die Frauenabende.
Wo Schatten, da auch Licht – heißt es. Was waren die schönsten Momente im Leben mit Ihren beiden Söhnen bzw. mit Kilian?
Dass ich Mami von beiden Buben sein darf und als Kilian das Modellfliegen erlernte, wie auch sein Bruder Silvan. Schön war auch, dass wir viele gute, gemeinsame Zeiten verbringen durften und heute noch dürfen, sei es beim Wandern, das gemeinsame Familientheatern, Spielabende oder auch die gemeinsamen Ferien.
Der Umgang mit dem Thema ADHS ist – zumindest in Österreich – noch immer sehr Tabu behaftet und von Vorurteilen bzw. Unkenntnis geprägt. Viele Eltern wagen es deshalb nicht, darüber zu sprechen, dass ihr Kind von ADHS betroffen ist. Was würden Sie Ihnen raten, ist es besser zu schweigen oder sollte man offen darüber sprechen?
Ich würde Eltern empfehlen, offen darüber zu sprechen. Für ADHS können weder das Kind noch die Eltern etwas. Es geht darum wie wir damit umgehen und welches Ziel wir erreichen. Daher ist Aufklärung sehr wichtig, damit betroffenen Kinder und deren Eltern besser verstanden werden.
Kilians Leidensdruck wurde weniger
Rund um die Existenz von ADHS ist – meiner Wahrnehmung nach – ein „wahrer Glaubenskrieg“ entbrannt. Eltern, die ihre Kinder mit Medikamenten behandeln, wird oft vorgeworfen, sie machen es sich zu einfach. Manchmal werden sie sogar als „Sklaven der Pharmaindustrie“ bezeichnet, weil es ADHS angeblich gar nicht gibt. Was sind Ihre diesbezüglichen Erfahrungen? Was würden Sie Kritikern einer medikamentösen Behandlung entgegnen?
Ich habe mir auch sehr lange überlegt, ob wir Kilian die ADHS-Medikamente geben sollten. Die Entscheidung ist nicht einfach gewesen, doch heute weiß ich, es war richtig. Kilians Leidensdruck wurde weniger. Er konnte zuhören, wenn ich ein Buch vorgelesen habe. Er konnte sich in der Schule besser konzentrieren, sich selbst anziehen.
Eine medikamentöse Behandlung kann für betroffene Menschen eine sehr hilfreiche Unterstützung im Alltag sein. Natürlich mit dem Wissen, dass die ADHS Medikamente keine Heilung sind.
Im Fazit zu meinem Buch beschreibt der erfahrene Kinder- und Jugendpsychologe Roland Abegglen, Eid. anerkannter Psychotherapeut, die ADHS-Medikamente.
Welche Rolle spielt – aus Ihrer Sicht – eine psychotherapeutische Betreuung bei der Behandlung von ADHS betroffenen Kindern?
Eine sehr große Rolle. In der Verhaltenstherapie hat Kilian neue Strategien gelernt, so etwa wie gehe ich mit Frust und Wut um. Wie bekomme ich meine Impulsivität in den Griff und wie kann ich mir eine „innere Handbremse“ aneignen.
Last but not least: Was würden Sie Eltern von Kindern mit ADHS gerne mitgeben? Und was würden Sie sich von der Gesellschaft im Umgang mit ADHS wünschen?
Eltern von betroffenen Kindern möchte ich auf den Weg mitgeben: Bleiben Sie dran, es lohnt sich.
Von der Gesellschaft würde ich mir sehr gerne mehr Verständnis wünschen und weniger eine Verurteilung von betroffenen Kindern und deren Eltern.
Über die Autorin
Daniela Chirici hat vor der Geburt ihrer Kinder als Krankenschwester gearbeitet. Sie ist Mutter von zwei Söhnen, ihr ältester Sohn Kilian ist von ADHS betroffen. Das Schweizer Fernsehen hat über zehn Jahre in mehreren Dokumentationen die Stationen im Leben der Familie Chirici nachgezeichnet.
Seit August 2015 ist Daniela Chirici als Schulassistentin in einer Primarschule im Kanton Zürich tätig, im April 2018 hat sie die Ausbildung zur Dipl. Erziehungsberaterin/Elterncoaching erfolgreich abgeschlossen. Von 2018 bis 2021 arbeitete sie in eigener Praxis für Elternberatung in Zug. Seit 2021 arbeitet sie im Zentrum für Psychologie und Verhaltenstherapie Abegglen, Isler & Partner in Baar, als ADHS-Coach für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und in der Elternberatung.
Außerdem war Daniela Chirici drei Jahre im Vorstand von Elpos (ADHS Organisation in der Schweiz) Zentralschweiz engagiert und hat zusätzlich zwei Jahre als Co-Leitung die AD(H)S Elterngesprächs-gruppe von Elpos Zentralschweiz geführt. (Textquelle: Hogrefe-Verlag)
Bild: Sujet – pixabay – Gerd Altmann; Text: hf
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